Friesenrache
gelegen.
Er und Haie erzählten Marlene von den Ereignissen der letzten Tage. Als sie ihr von Friedhelm Carstensens Auftritt während der Kaffeetafel berichteten, schaute sie ungläubig.
»Er ist froh, dass sein Bruder tot ist?« Sie schüttelte fassungslos ihren Kopf. »Aber dann ist es doch gut möglich, dass er ihn umgebracht hat.«
»Schon«, bestätigte Haie, »aber die Polizei geht davon aus, dass Ulf ein stärkeres Motiv als sein Onkel gehabt hat. Immerhin hat er jahrelang mit ansehen müssen, wie sein Vater die Mutter quälte.«
»Aber Friedhelm hat doch sicherlich auch davon gewusst«, versuchte sie, dem Verdacht der Polizei etwas entgegenzusetzen. »Wenn selbst dein Nachbar davon erfahren hatte. Wahrscheinlich hat das halbe Dorf darüber geredet. Hast du mal Elke gefragt?«
Haie verneinte. Zu seiner Exfrau hatte er in den letzten Tagen wenig Kontakt gehabt.
»Ich kann sie fragen. Aber um ehrlich zu sein: Im Dorf wird viel geredet. Da nimmt man ohnehin nicht alles für bare Münze.«
»Du vielleicht nicht«, bemerkte Tom. Aber viele Dorfbewohner sahen das vermutlich anders. Er erinnerte den Freund an das Gespräch, das er und Marlene kurz nach Kalli Carstensens Tod im SPAR-Laden mitbekommen hatten.
»Die haben doch da schon gemutmaßt, dass Sophie Carstensen ihren Mann umgebracht hat. Wenn die man nicht sogar recht hatten. Immerhin gibt es ein Geständnis.«
»Was gibt es?« Marlene blickte die beiden fragend an. Von einem Schriftstück war bei den bisherigen Schilderungen noch nicht die Rede gewesen.
»Sophie hat schriftlich bestätigt, Kalli umgebracht zu haben«, klärte Haie sie auf, »aber Thamsen geht davon aus, dass das Schreiben gefälscht ist. Und zwar von Ulf.«
»Warum sollte er das tun?«
»Um sich zu schützen.« Tom griff nach der Sektflasche und schenkte nochmals ein. Marlene betrachtete nachdenklich die sprudelnde Flüssigkeit. Sie war immer noch nicht von dem Verdacht der Polizei überzeugt. Warum sollte Ulf Carstensen seinen Vater ermordet haben? Gut, er hatte mit ansehen müssen, wie seine Mutter verprügelt wurde, aber aus eigener Erfahrung wusste sie, dass man häufig, zumindest wenn es die eigene Familie betraf, sehr leidensfähig war. Vermutlich hatte er bereits als Kind erleben müssen, wie seine Mutter regelmäßig Schläge bezogen hatte, vielleicht war dieser Umstand für ihn sogar ein Stück weit normal. Wahrscheinlich hatte er weggesehen, sich versteckt, gehofft, nicht ebenfalls Opfer der Gewalt seines Vaters zu werden. Warum sollte er sein Verhalten nun plötzlich geändert haben? Es war doch bequemer für ihn, nicht hinzuschauen, sich nicht einzumischen. Und vermutlich hatte seine Mutter das auch gar nicht gewollt. Warum sonst war sie so lange bei dem gewalttätigen Ehemann geblieben?
Marlene holte das Buch, das sie in der Lecker Buchhandlung gekauft hatte, und versuchte den Verdacht gegen den Sohn des Mordopfers zu entkräften.
»Hier steht es«, sie deutete mit dem Zeigefinger auf eine der Textpassagen, »Kinder stellen sich in den wenigsten Fällen gegen den Gewalttäter in ihrer Familie.«
»Das ist ja logisch«, bewertete Haie den fachlichen Abschnitt. »Die Kinder sind doch meist sowieso die Schwächeren. Außerdem hat Ulf sich nicht gegen seinen Vater gestellt, sondern soll ihn umgebracht haben. Das ist ja wohl etwas anderes.«
Tom nickte zustimmend, während Marlene jedoch weiterlas. Die beiden Freunde beobachteten sie dabei schweigend. In kürzester Zeit hatte sie einige Seiten überflogen, und ihre Bedenken gegen die Vermutungen der Polizei hatten sich noch verstärkt.
»Also«, begann sie mit der Zusammenfassung des gerade Gelesenen.
»In den meisten Fällen, in denen es zu gewalttätigen Handlungen innerhalb der Familie kommt, insbesondere bei denen die Frau das Opfer von Gewalttaten ist, kann man tatsächlich beobachten, dass betroffene Kinder sich häufig in eine Art Scheinwelt flüchten, um die realen Geschehnisse zu verdrängen. Es ist wie ein Schutzmechanismus, der die Kinder davor bewahrt, an der häuslichen Situation zugrunde zu gehen. Zu beobachten, wie der eigene Vater gegenüber der Mutter gewalttätig wird, sie schlägt, tritt und stößt, löst in den Kindern häufig eine derartige Angst aus, dass sie, wenn sich diese im Innersten ausbreitet, wahrscheinlich Selbstmord begehen würden. Diese Kinder sind oftmals sogar hochgradig suizidgefährdet.
Deshalb sehen sie
Weitere Kostenlose Bücher