Friesenschnee
Allerdings sind die Jahre nicht an allen Menschen so spurlos vorbeigegangen wie an Ihnen und Frau Muschelfang. Meine Mandantin ist nicht mehr ganz in dem Zustand, in dem sie sich seinerzeit von Ihnen verabschieden musste. Notgedrungen, hat sie mir versichert. Sie wohnt auch nicht mehr in Bad Godesberg, weil sie das warme Klima im Rheintal nicht mehr ertragen kann. Sie bereut das Nichtverhältnis mit Ihnen inzwischen sehr.«
Es schien Stuhr sinnvoll zu sein, sich zunächst reserviert zu halten. »So, tut sie das?«
Der Rechtsanwalt schenkte sich noch einmal nach. »Ja, das tut sie offenbar. Sie würde Sie gerne noch einmal sehen und mit Ihnen über die Dinge sprechen, die seinerzeit offengeblieben sind. Wären Sie einverstanden?«
Sich einmal noch sehen, das tat weh bei der Frau, die er unendlich geliebt hatte, bis sie ihn weggestoßen hatte. War sie etwa ein Pflegefall geworden? Sollte er für sie aufkommen? Doch einmal noch sehen, das klang auch gut. Er war unsicher. »Wo ist Frau Dr. Rieder denn anzutreffen, wenn sie solche Sehnsucht nach mir hegt?«
Dr. Trutz verging sich ein weiteres Mal an der Whiskyflasche, aber dieses Mal goss er das Glas randvoll. Er prostete ihm zu und nahm einen tiefen Schluck, bevor er antwortete. »Ich sehe, Sie werden zustimmen. Frau Dr. Rieder lebt jetzt auf der Insel Föhr. Fahren Sie einfach zum Runghof in Utersum. Meine Mandantin wird Sie dort erwarten.«
Der Gedanke, Angelika nach all den Jahren wiederzusehen, ließ Stuhr schlucken. Vielleicht war es aber auch eine einmalige Möglichkeit, die Angelegenheit zu einem guten Abschluss zu bringen. Seelenfrieden war schließlich auch ein hohes Gut. Er beschloss, auf das Angebot des Rechtsanwaltes einzugehen. »Einverstanden. Wann wird mich Frau Rieder dort erwarten?«
Der inzwischen etwas glasige Blick des Rechtsanwaltes wurde ernst. »Sofort, Herr Stuhr. Meine Mandantin hat mir versichert, dass Sie sofort kommen würden, wenn Ihnen ihr Wunsch bekannt wird. Frau Dr. Rieder erwartet Sie bereits. Wann werden Sie fahren?«
Stuhr musste sich eingestehen, dass Angelika mit ihrer Einschätzung recht hatte. Sie wusste immer schon, dass sie mit ihm Katz und Maus spielen konnte. Was würde Jenny dazu sagen? Hinterging er sie nicht? Stuhr zuckte unschlüssig mit den Schultern.
Beschwörend redete Trutz nun auf ihn ein. »Herr Stuhr, zögern Sie bitte nicht. Glauben Sie mir, wir beide werden davon bestens profitieren. Ein kleiner, unverfänglicher Besuch, das ist doch nicht zu viel von Ihnen verlangt, oder?«
Frischer Wind
Der Herbst nahte mit großen Schritten. Eine frische Brise wie heute Morgen hatte sich Kommissar Hansen in der letzten Woche oft gewünscht, denn die für den Spätsommer ungewohnt hohen Temperaturen hatten ihm tagsüber oft den Schweiß auf die Stirn getrieben. Dazu kam noch dieser unerklärliche neue Fall am Wasserturm.
Die unangenehme feuchtkalte Witterung, die ihm jetzt auf dem Weg zum Präsidium entgegenschlug, erschwerte es ihm allerdings, tief Luft zu holen, um seinen Ärger abzulassen. In Gedanken hatte er das anstehende Gespräch mit seinem Polizeidirektor bereits mehrfach durchgespielt, aber egal, wie er es führte, es würde wie immer mit einem Eklat enden.
Als Hansen die Stufen der Polizeidirektion erklomm, meldete sich Fingerloos am Telefon mit ersten Ergebnissen von der Obduktion. »Wir sind ein ganzes Stück weitergekommen, Hansen. Meine Vermutung von gestern scheint sich zu bestätigen. Keinerlei Hinweis auf eine Schussverletzung bei Halbedel. Wir haben die DNA-Proben von ihm mit den Spuren bei der Kramer abgeglichen, aber es gab keine Übereinstimmung. Ansonsten gab es weder genital noch rektal Auffälligkeiten.«
Die grüßenden Kollegen in der Direktion nahm Hansen nur verschwommen zur Kenntnis, während er bei Fingerloos nachhakte. »Wieso denn rektal?«
Es blieb eine Zeit lang still im Telefon, bevor Fingerloos antwortete. »Na ja, Sie wissen schon, bei Schauspielern weiß man doch nie, und die Analysemethode ist die gleiche.«
Hansen schüttelte den Kopf über das Vorurteil von Fingerloos, während er in den ersten Stock stiefelte. Gedankenversunken zog er die Folgerung. »Dann kann sich Halbedel also nicht an der Kramer vergangen haben, wenngleich er das auf dem Turm vor seinem Tod höhnisch in die Nacht geschrien hatte, richtig?«
Fingerloos bestätigte das. »Richtig, Hansen. Niemand hat sich vermutlich an der Kramer vergangen. Aber nicht einmal den Knüppel, mit dem der Köter
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