Friesenwut - Kriminalroman
dich nicht
so gehen sehen!« Frauke Hajen stand da. Ein hageres, blondes und sehr blasses
Mädchen. Obwohl sie schon 18 war, wirkte sie wesentlich jünger. Hillrichs
Tochter, sein Ein und Alles. Unscheinbar, als sei sie plötzlich aus dem Nichts erschienen.
Die Kollegen hatten sie aus Norden geholt, wo sie das Praktikum absolvierte.
Hillrich Hajen starrte auf seine Tochter.
»Was hast du da?«, fragte er
unvermittelt. Frauke hielt einige Zettel in ihrer linken Hand.
»Einen Entwurf zum Lehrvertrag. Sie
haben mich gefragt, ob ich bei ihnen eine Lehre machen möchte. Sie suchen ganz
dringend jemanden«, flüsterte Frauke beinahe, doch aufgrund der Stille, die in
diesem Augenblick nur durch ein leises Rauschen des Windes durch die Dachbalken
der Scheune gestört wurde, hörten alle diese Worte. »Ich verstand mich sofort
mit den Leuten dort … Ich will dort arbeiten.«
Hillrich wusste nichts
zu sagen. Seine Augen verloren das grimmige Funkeln, Tanja Itzenga sah sie
feucht werden. Der alte Mann starrte seine Tochter nur an. Wieso jetzt? Wieso
kam sie gerade jetzt? Würde sich doch alles ändern? Warum nur das alles …
Tanja Itzenga fühlte,
dass sie mit dem rechten Fuß fest auf einer der Stufen stand. Sie ging in die
Knie, drückte sich mit voller Kraft ab. Mit vorgestreckten Händen stieß sie
Hajen nach hinten. Er kippte, riss den Revolver hoch, ein Schuss löste sich und
formte ein kreisrundes Loch im Ondolinedach der Scheune. Dann stürzte er an der
anderen Seite des Mähdreschers herunter. Aufprall, ein Schrei des Schmerzes.
Bruchteile von Sekunden Stille. Ulferts rannte zu Hajen, dessen Frau hinterher.
Tanja Itzenga war zwischen dem Sitz des Mähdreschers und dem Steuerrad
eingeklemmt. Sie konnte sich ohne Hilfe nicht befreien, war mit dem Kopf auf
ein Eisenteil aufgeschlagen und blutete stark.
Hajen lag auf dem
Boden. Krümmte sich vor Schmerzen, schrie nur: »Der Rücken, der Rücken, oh
Gott, der Rücken!« Ulferts gab den Kollegen zu verstehen, dass dringend ein
Arzt benötigt wurde. Der war für den Fall der Fälle längst alarmiert worden und
vor Ort. Er sprintete zu dem Verletzten. Während er die Erstversorgung vornahm,
strich Martha Hajen ihrem Mann übers Haar. Frauke stand auf der anderen Seite
und versuchte, ihre Mutter zu trösten. Beide schluchzten verzweifelt. Zwei
Polizisten halfen Hauptkommissarin Itzenga aus ihrer misslichen Lage. Sie war
blutverschmiert, wankte, doch sie konnte gehen. Die Scharfschützen zogen sich
zurück, genauso lautlos, wie sie gekommen waren. Ulferts atmete einmal tief
durch.
43
»Bitte?« Ulferts sah
die Hauptkommissarin entgeistert an. Was war das für ein verdrehter Fall.
»Es ist so, wie ich sagte: Alex
Aldenhoff ist nicht tot!«, hauchte Tanja Itzenga. Ihr Kollege sah sie halb
fragend, halb bestürzt an.
»Was soll denn das heißen?«,
fragte er sie leise, aber fordernd.
»Er lebt, medizinisch betrachtet.
Wir haben – zur Unterstützung der Ermittlungen – das Gerücht, er sei
tot, in die Welt gesetzt. Wir kamen nicht weiter, Ulfert, da schien es uns als
gute Möglichkeit, um den Täter zu verunsichern. Wenn einer wirklich tot ist,
weißt du, dann setzt das Gewissen ein, dann, ach, was erzähle ich dir … Um eventuell
Fehler bei den Verdächtigen zu provozieren, Emotionen zu schüren, damit der
Täter sich verrät oder gar gesteht. Und – so betrachtet, hat es ja
geklappt, nur …«, sie sah ihn kurz an, doch Ulfert schaute aus dem Fenster.
»Und wer ist ›wir‹?«, erkundigte
sich Ulferts.
»Eilsen und ich. Es war Eilsens
Idee, die Sache total unter Verschluss zu halten. Ulfert, ehrlich, ich wollte
…«
»Scheiß was auf ›ehrlich‹!«,
schrie er, pfefferte einen Aktenordner auf den Schreibtisch und verließ den
Raum. Tanja Itzenga konnte seine Wut verstehen. Und seine Enttäuschung. Nicht
nur, dass beide die Sachlage falsch eingeschätzt und einen Unschuldigen
festgehalten hatten. Schwerer wog, dass sie ihm die Sache mit dem angeblichen
Tod Aldenhoffs nicht gesagt hatte. Das war ein Vertrauensbruch, das war ihr
klar. Hatte sie nicht ganz am Anfang der Geschichte gesagt, sie wolle den Fall
nicht? War es nicht so gewesen? Hätte sie es doch gelassen. Überlastet, Herr
Polizeipräsident, es geht nicht, da muss jemand anders ran. Und der hätte
sicher akzeptiert, irgendwann. Nur weil Ulfert sie so sehr gedrängt hatte, war
sie schließlich einverstanden gewesen. Sie waren doch so ein gutes Team.
Gewesen. Ihr fielen all die
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