Frischluftkur: Roman (German Edition)
niemand mehr zurückhalten. Aber das hat sowieso keiner vor.
»Na dann«, sagt Zitterkalle, stellt das leere Glas mit ruhiger Hand auf den Tresen, lässt sich beinahe elegant vom Barhocker gleiten und tänzelt gen Tür. Die anderen folgen ihm.
Draußen setzt sich eine Fahrzeugkolonne in Bewegung. Vorneweg Kalle mit seinem Trecker, hinter ihm Hans-Heinrich, Helmut und Walter mit ihren Opel Astras, dahinter die Delegation des Ideenkreises Junger Landfrauen im schlüpferfarbenen Opel Corsa. Nach fünfhundert Metern kommt der Autocorso zum Stillstand. Das Ziel ist erreicht.
Der Badeteich, der so heißt, weil man im Sommer hervorragend darin schwimmen kann, wenn man nichts gegen Blaualgen und Frösche hat, ist von einer Eisschicht bedeckt. Wie dick die ist, kann man nicht erkennen. Am Rand sieht sie recht solide aus, in der Mitte scheint sie dunkler zu schimmern. Ein schlechtes Zeichen? Irgendjemand hat den Schnee zur Seite geschoben und eine glatte Fläche geschaffen, die von wenigen Schlittschuhspuren eingekerbt ist.
Kalle möchte am liebsten sofort losfahren, bevor seine Hände wieder zittern oder vor Kälte ganz starr werden und abfallen. Bevor sein Alkoholpegel sinkt. Und bevor ihn der Mut verlässt. Er startet seinen Trecker und legt den ersten Gang ein.
»Halt! Stopp!«, kreischt die Abordnung des Ideenkreises Junger Landfrauen. »Es sind noch nicht alle da!« So schnell es geht tippen sie mit ihren naturgetreu nachgebildeten Fingernägeln auf ihre Mobiltelefone ein.
»Was heißt hier: noch nicht alle?«, fragt Hans-Heinrich und lässt seinen Blick am Ufer des Badeteiches entlangwandern, gefolgt von einer Armbewegung, die aussieht, als wollte er einen Tisch möglichst schnell abräumen. »Und was ist das?«
Zitterkalles Augen folgen Hans-Heinrichs Arm. Das Teichufer ist von einer Menschenkette umsäumt. Von mehreren Menschenketten in mehreren Reihen. Ein paar sind auf die umstehenden Bäume geklettert, um bessere Sicht zu haben. Publikum, denkt Zitterkalle, das ist gut. Jetzt geht es wirklich um meine Ehre. Endlich habe ich wieder eine Chance zu beweisen, was in mir steckt. Wie mutig ich bin. Ich bin ein Superheld! Bei diesen Gedanken wird ihm einen Moment lang ganz warm ums Herz. Diese Wärme strahlt fast in seine roten, rauen, vor Kälte starren Hände aus.
Das Dorf hat knapp zweitausend Einwohner. Jeder, der noch halbwegs rüstig auf den Beinen und nicht gerade mit der Zubereitung einer Hauptmahlzeit beschäftigt ist, hat sich auf den Weg gemacht, um dem aufregenden Ereignis live beizuwohnen. Das ausgeklügelte SMS-Schneeballsystem der Landfrauen hat mal wieder funktioniert.
In der ersten Reihe steht Wilma, mit Skiunterwäsche unter dem Blümchenkittel. Sie ist gespannt, was ihr gleich geboten werden wird. Darüber weiß niemand so recht Bescheid.
Sie inspiziert das Publikum: Die Landfrauenfraktion ist fast vollständig. In der Nähe von Zitterkalles Trecker hat sich der Ideenkreis Junger Landfrauen versammelt. Die Freiwillige Feuerwehr, der Turnverein und der Schützenverein sind vollzählig. Auf einer Bank, etwas im Hintergrund, sitzt das Häkelkränzchen. Und auch die Dorfjugend ist gut vertreten. Zwei Teenager-Mädchen fallen Wilma auf. Wie die sich heutzutage auf die Straße trauen, denkt sie. Die eine ist ja ganz hübsch, bisschen dürr vielleicht, aber die andere ... Das ist doch die kleine Helga. Die war so ein niedliches Kind, und jetzt sieht sie aus wie eine Fledermaus. Wilma schüttelt den Kopf und konzentriert sich wieder auf die Volkszählung. Sind alle da? Nein, eine fehlt noch: Monique, die Anführerin des Ideenkreises und Chefin des örtlichen Schönheitssalons.
Die kann sich mal wieder nicht von ihrem Heißwachs losreißen, vermutet Wilma. Doch da kommt schon Moniques daytona-violett-metallic-farbener Opel Corsa Swing um die Kurve geschlittert. Sie parkt direkt vor Zitterkalles Trecker.
Wilma wird es auf einmal noch ein bisschen kälter. Darum geht es also. Kalle will wieder eins seiner berühmten Abenteuer erleben. Natürlich hört sie liebend gerne dramatische Einzelheiten darüber. Aber dass sie nun dabei zusehen wird, fühlt sich merkwürdig an.
»Okay, Leute, es kann losgehen!«, ordnet Monique an, als wäre die Wette genau wie die Junggesellenversteigerung ihre Idee gewesen.
»Was bildet die sich eigentlich ein«, murmelt Walter Helmut und Hans-Heinrich zu, aber nur ganz leise. Monique trägt spitze Stilettos, die aussehen wie gefährliche, entsicherte Waffen. Sie ist keine,
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