Frischluftkur: Roman (German Edition)
geökkelt ist, hat er den kleinen Vogel manchmal nachts gehört. Wachtelkönig müsste man sein, denkt Zitterkalle, dann stünde man erstens unter Naturschutz und wäre zweitens Zugvogel, also jetzt in Afrika. Schön weit weg und im Warmen. Da haben die Leute zwar auch Probleme, aber bestimmt nicht so eins.
Mit einem scharfen metallischen Quietschen versinkt der Trecker noch ein Stück.
»Uhhhhhhh«, kreischen die Jungen Landfrauen entsetzt. Keiner würde es zugeben, aber das ist die Situation, auf die sie alle gewartet, gehofft haben. Endlich passiert mal was im Dorf!
Doch dann passiert erst mal gar nichts mehr. Der Rest des Eises erweist sich als erstaunlich stabil. Der Trecker kommt in Schieflage zum Stillstand. Alle gucken. Keiner tut was.
Fünf Minuten vergehen.
Zehn Minuten.
Die ersten Zuschauer überlegen, ob sie wieder nach Hause gehen, es ist schließlich saukalt hier.
Nur Wilma in ihrer Ski-Unterwäsche und dem Kittel friert nicht mehr. Dafür wird ihr plötzlich von innen drin ganz merkwürdig zumute. Ein bisschen, als würde sich eine Boa constrictor um Herz oder Gehirn oder beides winden und zudrücken. Jedes Gefühl, das ihr vertraut ist, rausquetschen und Platz zu machen für etwas anderes. Komisch. Gefahren und Sensationen sind ihr Lebenselixier, solange sie davon erzählen kann und sie Geschichten darüber hört. Aber so etwas selber mitzuerleben, dabei zu sein und zuzusehen wie ein Mann – zudem einer, den sie sehr schätzt, was ihr aber erst in dieser Minute klar wird – dem sicheren Tod ins Auge blickt ... nein, das ist nicht gut. Eine Zukunft ohne Zitterkalle erscheint ihr plötzlich leer und öde. Sie muss etwas tun!
»Kalle, ich rette dich!«, schreit sie und will aufs Eis stürmen.
Die Menge seufzt auf. Erschrocken und entzückt.
»Nö, lass mal«, ruft Kalle. »Aber danke.« Mühsam gelingt es ihm, sich auf dem Treckersitz zu halten. Er überlegt fieberhaft, wie er aus dieser Situation heraus- und doch noch an seinen Kasten Bier herankommt. Da kann er seine Nachbarin gerade so gar nicht gebrauchen.
Wilma ist schockiert. Der Mann lehnt ihre Hilfe ab! Kann das sein? Ganz kurz ist sie eingeschnappt und denkt: Soll er doch absaufen. Dann aber merkt sie: Diese Rühr-mich-nicht-an-Haltung macht Kalk für sie nur noch attraktiver. Der Kerl ist nicht zu haben? Das findet Wilma interessant. Also muss sie ihn so retten, dass er es nicht bemerkt. Angst zu haben, dass ihr jemand zuvorkommt, muss sie nicht. Die Dorfbewohner stehen nach wie vor da und glotzen. Die Jungen Landfrauen trippeln von einem Bein aufs andere, entweder weil ihnen kalt ist oder weil sie mal Pipi müssen.
Wilma geht zu ihnen und leiht sich ein Mobiltelefon.
Eine Viertelstunde später, die Reihen der Zuschauer haben sich deutlich gelichtet, rollt der Abschlepper aus dem Nachbarort mit Kranwagen und Seilwinde an. Als würde er tagtäglich nichts anderes tun, marschiert Ulf, der Schrotthändler, zum Trecker und hängt dort einen Haken mit einem Seil daran ein. Es sieht aus, als hätte er sich Schneeschuhe untergeschnallt, aber das täuscht, seine Füße sind wirklich so groß.
»Ufffff«, machen die verbliebenen Gaffer, froh, dass das grausame Schauspiel nun ein Ende haben wird und sie endlich wieder nach Hause dürfen.
»Gut festhalten«, ruft Ulf.
Kalle umfasst mit letzter Kraft das Steuer, es gibt einen Ruck und der Trecker kriecht langsam ans Ufer.
Wilma hat sich inzwischen mit ein paar Landfrauen in Moniques Corsa gesetzt. »Macht Kalle eigentlich bei der Junggesellenversteigerung mit«, fragt sie, möglichst unauffällig.
»Nö, wieso?«, antwortet Monique.
»Na ja, auf den wird nach dieser Aktion doch sicher hoch geboten. Das bringt bestimmt ordentlich Geld in die Kasse. Ich hab da so was läuten hören. Er hat zwei, drei wohlhabende Verehrerinnen aus der Neubausiedlung. Aber ich will ja nichts gesagt haben ...«, streut Wilma ein wohlüberlegtes Gerücht.
Man kann fast sehen, wie es hinter Moniques Augenbrauen zu rattern beginnt, dort, wo man ihr Gehirn vermuten könnte. Oder eine Registrierkasse.
Wilma weiß, dass sie genug getan hat. Alles andere wird sich ergeben. Sie muss erst später wieder aktiv werden. Sie wird ihn sich schnappen, diesen mutigen Mann.
Zitterkalle lässt sich von Helmut, Walter und Hans-Heinrich nach Hause fahren. Sogar eine Kiste Bier holen sie noch unterwegs aus Helmuts Keller. Obwohl: Die Wette hat er ja eigentlich verloren. Aber man will nicht kleinlich sein, und der Spaß war
Weitere Kostenlose Bücher