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Fröhliche Wiederkehr

Fröhliche Wiederkehr

Titel: Fröhliche Wiederkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Biernath
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bei der auch der Urgroßvater keine guten Tage erlebte —, auch wenn sie damit von einem harten Lager zu einem Dornenbett kam, denn lange Jahre war bei ihnen, wohl auch deshalb, weil die Kinder in rascher Folge kamen, Frau Sorge ständiger Gast im Haus. Meine Mutter als Älteste wußte sich gut daran zu erinnern und behauptete bis ins Alter, daß sie ihre Hühneraugen und empfindlichen Füße dem Umstand zu verdanken habe, daß sie die groben Rindlederschuhe, von denen der Schuhmacher ihr höchstens im Abstand von drei Jahren ein Paar verpaßte, solange tragen mußte, bis ihre Füße die Form jener verkrüppelten Lilien angenommen hatten, die man in China seinerzeit als Merkmal besonderer Frauenschönheit schätzte. Und dann wurden die Schuhe von den jüngeren Geschwistern noch weitergetragen.
    Nein, es ging ihnen gar nicht gut. Erst, als Großvater zum Gerichtsvollzieher eingesetzt wurde, glaubten sie, aus dem Ärgsten heraus zu sein. Aber es kam noch schlimmer. Großvater, der Goliath an Gestalt, war inwendig weich wie Butter. Orgelklänge oder der Männergesangverein mit »Wer hat dich, du schöner Wald« rührten ihn zu Tränen. Mutter begleitete ihn eines Tages zur Bestattung eines Kollegenkindes, das drei Tage nach der Geburt gestorben war, auf den Friedhof. Die Kindsmutter lag noch im Wochenbett, und es waren keine sechs Leute, die dem kleinen Sarg als Trauergäste folgten. Und niemand vergoß eine Träne. Nur Großvater schluchzte wie ein Schloßhund, bis meine Mutter ihm den Ellenbogen in die Rippen stieß und ihm ins Ohr zischte: »Nun reiß dich schon zusammen, Heinrich! Oder ist es am Ende dein Kind, das hier beerdigt wird?!«
    Und nicht weniger als der Tod rührte ihn das Elend der Menschen. Als Gerichtsvollzieher war er völlig fehl am Platze. Und so kam es, daß er eines Tages von einem gerissenen Halunken, dem er das Mobiliar pfänden sollte, mit einer rührseligen Geschichte dazu überredet wurde, statt der Pfändung eine Bürgschaft zu übernehmen. Er, der sich inzwischen für seinen Beruf, der ihn oft über Land führte, Pferd und Wagen angeschafft hatte, mußte beides verkaufen und hatte an der Bürgschaft noch lange Jahre zu knacken.
    Als ich zur Welt kam, lebten meine Eltern in Lyck. An das Haus, in dem ich die ersten Lebensjahre verbrachte, habe ich nur undeutliche Erinnerungen. An den Hofplatz schlossen sich Gärten mit Obstbäumen und Gemüsebeeten an, und es gab große Sandkästen, in denen ich mit meinen Altersgenossen spielte. Eines Tages bekamen meine Spielgefährten allesamt den Keuchhusten und spuckten den Sand voll, in dem wir mit Blechformen Kuchen backten und unsere Backerzeugnisse natürlich auch probierten. Der Sand ist mir ausgezeichnet bekommen, denn ich blieb als einziger vom Keuchhusten verschont. Später übersiedelten wir in die Bahnhofstraße, und an diesen Umzug und an die neue Wohnung erinnere ich mich mit größter Deutlichkeit. Die Bahnhofstraße lief schnurgerade zu dem großen Lycker Marktplatz. Sie war auf einer Seite mit Linden bepflanzt. Mit ihrem Namen teilte sie das Schicksal vieler Straßen, denn nach der Schlacht von Tannenberg wurde sie in Hindenburgstraße umbenannt, später hieß sie Göring-Allee, und heute trägt sie als Folge dieser letzten Umbenennung einen polnischen Namen — wenn sie als Straße überhaupt noch existiert.
    Das Bild der Stadt, in der ich die frühen Kinderjahre verbrachte, setzt sich in meinem Gedächtnis wohl mehr aus Erinnerungen an spätere Besuche zusammen; die frühen beschränken sich auf das Stück der Straße, das man vom Fenster aus überblickte, und auf den Hofplatz hinter dem Haus, auf dem wir spielten. Der Große Meyer von 1900 berichtet in dürren Worten: Lyck, Kreisstadt am gleichnamigen See und Fluß, Bahnknotenpunkt, Hauptstadt des Masurenlandes, hat eine gotische evangelische und eine katholische Kirche, eine Synagoge, ein altes Ordensschloß (auf einer Insel im See 1273 erbaut) Denkmal des Generals v. Günther, Gymnasium, Lehrerseminar, Landgericht, versch. Fabriken und mit der Garnison (ein Infanterieregiment Nr. 147 und ein Dragonerregiment Nr. 11) 11 386 Einwohner, davon 534 Katholiken und 189 Juden. Lyck wurde 1435 gegründet.
    Über die interessantesten Dinge verliert das Lexikon kein Wort: daß in der Stadt ein Invalide lebte, der beim Sturm auf die Düppeler Schanzen beide Beine verloren hatte und sich in einem niedrigen Wägelchen eigener Konstruktion von einem Bernhardiner durch die Straßen ziehen ließ,

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