Fröhliche Wiederkehr
dem wir ein Zimmer nahmen und unsere Koffer abstellten. Die italienische Polizei hatte auch damals schon die angenehme Gewohnheit, Reisende nicht durch nächtliche Kontrollen zu belästigen, wenn sich dem Paß der Dame entnehmen ließ, daß sie das einundzwanzigste Lebensjahr überschritten hatte. Und Mabel war zum Glück seit drei Monaten im Besitz der Volljährigkeit. Der erste Gang führte uns zu den Stätten, an denen Romeo und Julia zueinanderfanden und dann so tragisch endeten, und von ihren Grabstätten ging es munter weiter zur Arena des Diokletian, zu der Kirche Santa Maria und zum Baptisterium San Giovanni in Fonte, zu den Mantegnas in San Zeno und zu den Veroneses in San Giorgio in Braida, es war ein volles Bildungsprogramm, das wir absolvierten, denn wir waren ja nicht nur zum reinen Vergnügen nach Verona gewallfahrt. Endlich aber führte uns der Hunger doch in unser kleines Hotel zurück, zu delikaten Brathähnchen und zu einem spritzigen Lambrusco. Und dann stiegen wir in der beschwingtesten Stimmung und mit Barcarolenmelodien im Herzen zu unserem Zimmer hinauf. Auf einem Tischchen neben dem riesigen Doppelbett in Renaissance-Schnitzarbeit — allerdings in Blech nachgeformt — stand eine große venetianische Glasschale, in der sich Äpfel, Birnen und Orangen türmten. Und, seligster aller Eindrücke, in den Büschen vor dem Fenster flöteten die Nachtigallen. Mabel vergaß alles Deutsch und stammelte amerikanische Verzückungslaute, und ich hätte auch allen Grund dazu gehabt, Töne der Verzückung von mir zu geben, für eine allzu rasch entschwindende Stunde zum mindesten... Aber irgendwann einmal muß der Mensch ja auch schlafen, besonders nach einem so anstrengenden Tag. Wir flöteten nicht mehr, aber die Nachtigallen flöteten weiter. Sie flöteten um zwei Uhr morgens und um drei, um vier schienen sie Verstärkung aus den Nachbargärten zu erhalten, und gegen halb fünf standen wir beide am Rande eines Nervenzusammenbruchs und feuerten, leider völlig vergeblich, die Apfel, Birnen und Orangen aus der venetianischen Schale in die Gegend, um die brüllenden Bestien zur Ruhe zu bringen. Ich besaß nicht einmal mehr Humor genug, die schluchzende Mabel mit der Geschichte von den Nachtigallen Luganos zu erheitern und zu trösten, die die Italienreise meiner Schwester Lotte so jäh beendet hatten.
Ich bin das, was man in der Geburtenfolge einer Familie einen Nachzügler nennt, und solch ein Nachzügler war auch mein Vater. So ist es nicht allzu erstaunlich, daß zwischen dem Geburtsjahr meines Großvaters und dem heutigen Tag eine Zeitspanne von mehr als 150 Jahren liegt; er wurde nämlich im Jahre 1818 geboren. Die Befreiungskriege waren durch den zweiten Pariser Frieden gerade beendet worden. Napoleon hatte auf St. Helena noch drei Lebensjahre vor sich, und erst dreizehn Jahre später vollendete Goethe den zweiten Teil des Faust. Eine erheiternde Vorstellung, mein Großvater hätte, wenn er nicht als Sohn eines Schumachers zur Arys, sondern eines Meisters dieser Zunft zu Weimar zur Welt gekommen wäre, dem Geheimrat v. Goethe ein Paar frisch besohlter Stiefel ins Haus tragen und von ihm einen halben Groschen als Botenlohn bekommen können. Leider war mein Vater im Gegensatz zur Mutter ein wenig gesprächiger Mann. So weiß ich nur, daß auch sein Vater ein großer Mensch war und wegen seiner Körperlänge genauso wie mein Großvater Schenk zu einem Berliner Regiment einberufen wurde. Eisenbahnen gab es zu jener Zeit nicht. Die Rekruten wurden in Sammelstellen zusammengefaßt und von Königsberg, Allenstein oder Elbing nach Berlin in Marsch gesetzt. Der Mann bekam pro Tag ein Kommißbrot, ein Stück Speck und ein Nösel Branntwein. Dieses Hohlmaß faßte mit kleinen Landesunterschieden 0,4 Liter. Und Brot, Speck und ein >Nösel< Schnaps blieben bis zu seinem Lebensende die wichtigsten Nahrungsmittel, die der Großvater zu sich nahm. Daß er dabei siebenundsiebzig Jahre alt wurde, ist ein wahres Wunder. Allerdings litt er in seinen letzten Lebensjahren an einer Gicht, die ihn so zusammenkrümmte, daß er, wie mein Vater erzählte, nach seinem Tode in einem Kindersarg Platz gefunden hätte. Daheim führte er ein strenges Regiment. Den Kindern gestattete er bis zum sechsten Lebensjahr das vertrauliche Du, dann mußten sie Herr Vater und Sie zu ihm sagen, auf masurisch, denn deutsch wurde nur in der Schule gesprochen.
Was jene Tage, in denen mein Vater seine Kindheit verlebte, so unendlich fern
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