Frösche: Roman (German Edition)
ins Weintraubenspalier. Gugu stand auf: »Ich bin dicht. Für mich ist die Feier zu Ende. Ich geh nach Haus.«
Sie schob ihren massigen, großen Körper torkelnd zum Hoftor hinaus. Wir beeilten uns, hinterherzurennen, um ihr zu Hilfe zu kommen.
»Ihr glaubt doch nicht etwa, dass ich wirklich betrunken bin? Nee, so weit ist es noch nicht mit mir. Ich bin trinkfest bis zum tausendsten Glas.«
Vor dem Tor sahen wir ihren Mann Hao Dashou, Große Hand, der vor einigen Tagen eine Ehrung als »Chinesischer Großmeister der kunstgewerblichen Volkskunst« bekommen hatte. Still hatte er dort gestanden und auf seine Frau gewartet.
9
Im Übrigen, verehrter Freund Sugitani-san, kam mein Neffe anderntags mit dem Moped aus der Kreisstadt angefahren, nur um in Begleitung seines Vaters seine Großtante zu besuchen, damit sie ihm diese Geschichte über Wang Xiaoti erzählte. Mein Bruder lächelte gezwungen.
»Besser, wir lassen das. Deine bald achtzigjährige Großtante quält sich schon ihr ganzes Leben damit herum. Immer hatte sie es schwer. Wir rühren deswegen besser nicht an solch alte Kamellen, denn es brechen nur alte Wunden wieder auf. Dazu kommt, dass sie darüber vor deinem Großonkel nicht gut reden kann.«
»Xiangqun«, sagte ich, »dein Papa hat recht. Aber ich kann dir, wenn dich diese Geschichte interessiert, alles erzählen, was ich darüber weiß. Eigentlich brauchst du nur im Internet nachzuschauen, um nachvollziehen zu können, was damals passierte.«
Weil ich schon immer vorgehabt habe, über meine Tante einen Roman zu schreiben – obschon ich diesen Plan inzwischen verworfen habe und nur ein Theaterstück über sie schreiben werde –, habe ich Wang Xiaoti von Beginn an als einen wichtigen Protagonisten eingeplant. Zwanzig Jahre vorbereitende Recherche habe ich bislang investiert. Ich habe, um möglichst viele Beteiligte zu interviewen, unendlich viele Beziehungen geknüpft. Ich bin extra zu den drei Flughäfen gefahren, auf denen Wang Xiaoti Staffel geflogen ist, bin in seiner Heimat Zhejiang gewesen, habe mit einem Kriegskameraden aus seiner Jagdfliegerstaffel gesprochen, habe seinen Staffelkapitän und den stellvertretenden Kommodore, Oberstleutnant des Jagdgeschwaders, befragt, bin sogar in so einen Jagdflieger des Typs Shenyang J-5, wie er ihn flog, hineingestiegen und habe mit dem Leiter der Sondereinheit für die Abwehr antikommunistischer Machenschaften und dem Sektionschef des Sicherheitsdienstes im Kreisgesundheitsamt gesprochen. Man kann getrost behaupten, dass ich über Wang Xiaoti besser Bescheid weiß als jeder andere. Bedauerlich ist nur, dass ich ihn nie persönlich kennengelernt habe. Deinem Vater dagegen hatte deine Großtante mal erlaubt, sich vor der Vorstellung im Kino zu verstecken, um mit eigenen Augen zuzusehen, wie die beiden Hand in Hand in das Kino kamen. Sein Sitzplatz war dann unmittelbar neben dem Wang Xiaotis gewesen. So hatte dein Vater ihn uns später beschrieben: Einsfünfundsiebzig groß, vielleicht auch einssechsundsiebzig, blitzsaubere weiße Haut, langes, schmales Gesicht, kleine, aber sehr lebendige Augen, dazu gerade, strahlendweiße Zähne.
An jenem Abend hätten sie den sowjetischen Film Wie der Stahl gehärtet wurde gezeigt, eine Verfilmung nach dem gleichnamigen Roman von Nikolai Ostrowski. Zuerst habe er heimlich hinübergeschielt, ob die beiden sich wohl anfassten. Aber dann habe die Revolutions- und Liebesgeschichte auf der Leinwand ihn voll in ihren Bann gezogen. Damals habe es viele Brieffreundschaften zwischen sowjetischen und chinesischen Schülern gegeben. Das sowjetische Mädchen, mit dem sich dein Vater Briefe schrieb, hatte haargenau wie das Mädchen im Film Tonjageheißen. Deswegen hatte dein Vater, versunken in die Liebesgeschichte auf der Leinwand, vergessen, dass das Wichtigste im Leben immer die persönliche Berufung und die eigene Mission sind.
Aber ein bisschen hatte es doch genutzt, dass er ins Kino mitgekommen war. Vor der Vorstellung hatte er den Jetpiloten gesehen und in der Pause zum Rollenwechsel, damals arbeiteten die Vorführer in den Kinos nur mit einem einzigen Projektor, hatte er ihn noch einmal gesehen. Er hatte den Bonbonduft aus seinem Mund gerochen, natürlich auch den Geruch der anderen, die geräuschvoll Melonenkerne und Erdnüsse knabberten. Damals durfte man in den Kinos essen. Alles, mit oder ohne Schalen. Die Füße wateten durch eine dicke Schicht von Bonbonpapier, Erdnuss- und Melonenschalen.
Als die Zuschauer den
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