Fromme Wünsche
pro
Stunde statt der üblichen zwanzig.
Er sagte mir noch, daß der neue Prior Boniface
Carroll meinen Anruf erwarte. Albert schrieb den Namen auf ein Blatt Papier,
auf das er mir bereits den Weg zum Kloster skizziert hatte. Stirnrunzelnd
steckte ich es ein. Sie waren sich meiner Hilfe ja recht sicher gewesen. Aber
hatte ich nicht schon im voraus mein Einverständnis gegeben, als ich mich
aufmachte nach Melrose Park?
Bevor ich in meinen Wagen stieg, massierte ich mir
die Stirn. Die kalte, klare Luft würde hoffentlich den Pfeifenrauch aus meinem
schmerzenden Kopf vertreiben. Ich warf einen Blick zurück zum Haus. Ein Vorhang
bewegte sich an einem Fenster im ersten Stock. Die Vorstellung, von Rosa wie
von einem kleinen Mädchen oder einem Dieb heimlich beobachtet zu werden,
erheiterte mich und stärkte mein Selbstwertgefühl.
2 Die
Schatten der Vergangenheit
Ich erwachte schweißgebadet. Es dauerte einen
Augenblick, bis ich mich in der Wirklichkeit zurechtfand. Im Traum hatten mich
Gabriellas Augen riesengroß aus dem bereits vom Tode gezeichneten, verhärmten
Gesicht angestarrt. Auf italienisch hatte sie mich um Hilfe angefleht.
Die Zeiger der Digitaluhr standen auf halb sechs.
Ich biß fröstelnd die Zähne zusammen und zog mir die Steppdecke bis unters
Kinn.
Mit fünfzehn verlor ich meine Mutter. Sie starb an
Krebs. Als die Krankheit sich immer mehr in ihr schönes Gesicht fraß, nahm sie
mir das Versprechen ab, daß ich mich um Tante Rosa kümmern würde, falls sie je
Hilfe brauchte. Vergeblich versuchte ich, Gabriella umzustimmen, und zu guter
Letzt versprach ich es ihr.
Mehr als einmal hatte mir mein Vater erzählt, wie er
meine Mutter kennengelernt hatte. Er war Polizist gewesen. Rosa hatte Gabriella
einfach auf die Straße gesetzt. Meine Mutter hatte schon von jeher mehr Mut als
gesunden Menschenverstand besessen. Sie versuchte, sich mit Singen über Wasser
zu halten, das war das einzige, was sie konnte. Leider wußte man in den Bars
der Milwaukee Avenue, in denen sie vorsprach, mit Puccini oder Verdi wenig
anzufangen, und mein Vater kam ihr zu Hilfe, als eine Horde Männer sie eines
Tages zum Striptease zwingen wollte. Weder er noch ich hatten je verstanden,
weshalb sie den Kontakt zu Rosa aufrechterhielt.
Mein Herz schlug wieder ruhiger, doch an Schlaf war
nicht zu denken. Zähneklappernd tappte ich zum Fenster und schob die schweren
Vorhänge beiseite. Der Wintermorgen war stockfinster. Wie dünner Nebel
rieselte der Schnee herab. Obwohl ich vor Kälte zitterte, stand ich wie
verzaubert, eingehüllt von der tröstenden Dunkelheit.
Erst nach einer ganzen Weile ließ ich den Vorhang
wieder zufallen. Um zehn war ich mit dem Prior von Sankt Albert in Melrose Park
verabredet. Weshalb also nicht gleich aufstehen?
Um in Form zu bleiben, jogge ich selbst im Winter
täglich an die acht Kilometer. Auf meinem Spezialgebiet, der Wirtschaftskriminalität,
kommt es zwar selten zu Gewalttätigkeiten, doch meines Erachtens ist Laufen
das beste Mittel, um Gewichtsprobleme, die durch übermäßigen Pasta-Genuß entstehen
könnten, in den Griff zu bekommen. Diät liegt mir nämlich noch weniger als
Sport.
Im Winter trage ich beim Joggen ein leichtes
Sweatshirt, bequeme Hosen und eine Daunenweste. Ich wärmte mich im Bett auf,
zog mich dann an, spurtete durch den Gang und die drei Stockwerke hinunter. Draußen
hätte ich mein Vorhaben wegen des scheußlichen feuchtkalten Wetters fast
aufgegeben. Obwohl sich die Straßen bereits mit den ersten Pendlern füllten,
war es für mich noch sehr früh. Sonst wachte ich erst Stunden später auf.
Bei meiner Rückkehr hatte sich der Himmel kaum aufgehellt.
Vorsichtig stieg ich die Stufen zu meiner Wohnung hinauf. Sie sind sehr
ausgetreten und bei Nässe schlüpfrig. Ich sah mich schon mit meinen durchnäßten
Joggingschuhen ausrutschen und mir auf dem alten Marmor den Schädel
einschlagen.
Meine Wohnung wird von einem langen Gang in zwei
Hälften geteilt und wirkt dadurch größer. Eßzimmer und Küche liegen links,
Schlafzimmer und Wohnzimmer rechts. Aus unerfindlichen Gründen hat die Küche
eine Tür zum Bad. Ich ließ die Dusche laufen und machte mir nebenan Kaffee.
Meine Joggingsachen muffelten ein bißchen, würden es
aber für eine Runde gerade noch tun. Ich warf sie über die Stuhllehne und
genoß die heiße Dusche. Nach einigen Minuten wohliger Entspannung bemerkte ich
plötzlich, daß ich leise eine traurige Melodie sang, die ich von Gabriella
kannte.
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