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Frostbite

Frostbite

Titel: Frostbite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wellington
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griff sie tief in ihrem Innern
nach Reserven, tiefer als jemals zuvor, und rannte los.
    Die Bäume rasten an ihr vorbei und neigten sich nach links und nach rechts. Der unebene Boden riss an
ihren Füßen und verursachte brennende Schmerzen in ihren Knöcheln. Die Arme hielt sie vor sich ausgestreckt – trotz des
Halbmonds vermochte sie kaum etwas zu sehen, und es bestand das ernst zu
nehmende Risiko, frontal mit einem Baumstamm zusammenzustoßen und sich den Hals
zu brechen. Sie wusste, dass sie sich dumm verhielt, dass sie nichts
Verkehrteres tun konnte, als wegzulaufen. Aber sie war einfach zu keiner
anderen Reaktion fähig.
    Zu ihrer Linken flackerte etwas Goldenes. Wieder diese Augen. War es
dasselbe Tier? Sie vermochte es nicht zu sagen. Die Augen schwebten neben ihr
und hielten mühelos mit ihr Schritt. Diese
Augen strengten sich nicht einmal an.
Die Pfoten, die zu diesen Augen gehörten, erkannten instinktiv diesen
raue Untergrund, fanden den richtigen Tritt,
ohne hinsehen zu müssen. Die Nordwest-Territorien gehörten diesen Augen, diesen Pfoten. Und nicht der menschlichen Schwäche.
    Von rechts hörte sie es keuchen. Es waren mehrere. Es war ein Rudel,
ein ganzes Rudel, und es stellte sie auf die Probe. Schätzte ein, wie schnell
sie laufen konnte, wie stark sie war.
    Sie würde hier sterben, so weit von der Zivilisation entfernt wie
nur irgendwie denkbar. Sie würde sterben.
    Nein. Noch nicht.
    Dank der Evolution verfügte sie über einige Vorteile. Die Evolution
hatte ihr Hände gegeben. Ihre fernen Vorfahren
waren mit diesen Händen geklettert und Raubtieren entkommen. Sie musste
nur die Entwicklung von zwei Millionen Jahren auf der Stelle wieder vergessen.
Vor ihr erhob sich ein Baum aus dem dichten Wald, eine große, halb tote
Weißbirke mit starken Ästen, die zwei Meter über dem Boden ihren Anfang nahmen.
Sie überragte alles in der Nähe um mindestens fünf Meter. Chey stählte sich,
ballte die Hände ein paarmal zu Fäusten und entspannte sie wieder, während sie
geradewegs darauf zurannte. Ihre schmerzenden Füße trafen auf lose Rinde, die
wie Faltenhaut abpellte. Sie griff nach dünnen Ästen, eher Zweigen, die ihr
Gewicht unmöglich halten konnten. Sie schob sich an dem Baum hinauf, drückte
sich so dicht wie möglich an den Stamm, bis ihr ein Schauer aus zerfetzter
Rinde und Schneekristallen ins Gesicht
regnete. Plötzlich hielt sie einen dicken Zweig drei Meter über dem
Boden umklammert. Sie zog sich darauf, hielt sich mit dem ganzen Körper daran
fest. Spähte nach unten.
    Sechs ausgewachsene Wölfe starrten zu ihr herauf. Ihre goldenen
Augen zeigten nichts als Ruhe und Gelassenheit. Chey las förmlich Heiterkeit
darin. Die anmutigen langen Körper funkelten im Dämmerlicht. Sie wedelten mit
den Schwänzen.
    »Geht weg!«, flehte Chey, aber der Anführer, ein großes Tier mit
zotteligem Gesicht, streckte die Vorderbeine aus und ließ sich auf den Teppich
aus Kiefernnadeln und alten braunen Blättern sinken. Er hatte nicht die
Absicht, sich zu trollen.
    Eines der anderen Tiere, das etwas kleiner war – vielleicht ein
Weibchen? –, kratzte an der Birke. Die Zunge hing der Wölfin aus der
Schnauze, während sie immer höher griff. Sie riss den Rachen weit auf, als
würde sie gähnen, dann stieß sie ein teuflisches Kreischen aus, das zu einem
lauten Heulen wurde. Die anderen Tiere stimmten mit ein, bis Chey auf ihrem Ast
die Vibrationen spürte und allein durch die Macht dieser Stimmen von ihrem
Zufluchtsort geschüttelt zu werden drohte.
    Lachten sie sie etwa aus? Machten sie sich über ihre Notlage lustig?
Vielleicht sangen sie ja auch nur einfach, um sich die Zeit zu vertreiben.
Während sie darauf warteten, dass das Abendessen vom Baum fiel.
    »Verschwindet!«, schrie Chey, aber
ihre Stimme ging in dem Chor aus Gebell und Geheul beinahe unter. Sie
rief und brüllte, kam aber nicht dagegen an. Am liebsten hätte sie sich die
Ohren zugehalten, um das Heulen nicht mehr mitzubekommen, aber dann …
    Der Lärm verstummte. War wie abgeschnitten. In der folgenden Stille
hörte Chey, wie Schneeflocken von den Ästen über ihr zu Boden fielen.
    Da erscholl ein Ruf aus den Tiefen des Walds. Er war völlig anders.
Die Andeutung eines Knurrens lag darin. Eine
Herausforderung. Augenblicklich sprangen die Wölfe auf und blickten sich
in alle Richtungen um. Ihre Schwänze senkten sich, und sie sahen einander an,
als wollten sie sich vergewissern, dass auch die anderen Rudelmitglieder den
Laut

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