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Frostbite

Frostbite

Titel: Frostbite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Wellington
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bekommen.
    Vielleicht existierte die Stadt ja gar nicht. Vielleicht hatte man
bei der Herstellung der Karte einen Fehler gemacht.
    Vielleicht würde sie noch wochenlang weiter nach Norden wandern wie
eine brave kleine Pfadfinderin, bis sie zum Nordpolarmeer kam. Oder der Wolf
würde sie aufspüren, lange bevor das geschah – ja, mit Sicherheit würde
das passieren –, wo es ringsum keine hohen Bäume gab und er sie töten
konnte.
    Chey schloss die Augen und biss
sich auf die Unterlippe. Ihre Angst war so groß, dass ihr Rücken schmerzte. Angst wollte sie in zwei Stücke brechen, wollte,
dass sie sich zu Boden warf, zusammenkrümmte
und einfach auflöste.
    »Okay«, seufzte sie. »Okay.« Der Klang menschlicher Worte brach den
Bann. Sobald sie eine Stimme hörte, auch wenn es nur die eigene war, fühlte sie
sich weniger einsam und verletzlich. Sie
strich sich den Parka sauber, so gut es möglich war – er war
übersät mit winzigen Stücken von Birkenrinde und weniger erfreulichen
Stoffen –, und stand auf. Beim ersten Schritt mit dem verletzten Knöchel
gab ihr Knie nach, und sie musste eine Weile stehen bleiben und warten, bis das
Rauschen in den Ohren nachließ. Der nächste Schritt tat schon weniger weh.
    »Okay«, sagte sie. Lauter. Zuversichtlicher. Der harte K-Laut
war der Teil, der half. »Okay, du kleine Närrin. Alles wird gut.«
    Die Bäume verschluckten sie
kommentarlos. Tatsächlich machten ihre langsamen Schritte das
Vorankommen in dem schwierigen Gelände einfacher. Sie hatte genug Zeit, sich
umzusehen und darauf zu achten, wohin sie jeden Fuß setzen musste, wie sie die
Bodenlöcher und knorrigen Baumwurzeln mied. Sie hatte Zeit, dem Knacken der
Kiefernnadeln unter ihren Stiefelsohlen und dem Knirschen des Schnees zu
lauschen, wenn sie darin einsank. Sie roch auch den Wald, das Harz, das
verrottende Holz und sein modriges Aroma.
    Dem Uhrendisplay auf ihrem Handy zufolge ging sie eine Stunde lang.
Dann blieb sie stehen und ruhte sich aus. Sie setzte sich auf einen trockenen
Stein, zog die Knie dicht an die Brust und blickte den Weg zurück, den sie
gekommen war. Es gab keinen erkennbaren Pfad – sie war wirklich stolz
darauf, so viel unwegsames Gelände hinter sich gebracht zu haben. Dann blickte
sie auf und entdeckte die Weißbirke, die ihr in der vergangenen Nacht Asyl
geboten hatte.
    Der Baum stand keine hundert Meter hinter ihr. Das war die ganze
Entfernung, die sie in einer Stunde zurückgelegt hatte.
    Ihr Hals schnürte sich zu. Mühsam unterdrückte sie die aufsteigenden
Tränen und rang nach Luft. »Nein«, sagte sie, obwohl sie eigentlich nicht
wusste, wem sie da eigentlich eine Absage erteilte. »Nein!«
    Sie hatte sich verirrt.
    Sie war allein.
    Sie war verletzt.
    Ihr war klar, wie sie alles zusammenrechnen musste. Wie das
Endergebnis aussehen würde. Diese drei Variablen
machten den Unterschied aus zwischen glücklichen, gesunden jungen Frauen
und Leichen, die man nie mehr fand. Ihr Körper würde sie im Stich lassen, Kälte
oder Regen würden ihr das Leben aussaugen oder … oder der große Wolf. Er würde
zurückkehren und sein Werk vollenden, und vielleicht würde er ein Stück von ihr
fressen. Nachdem er dann verschwunden war, würden sich kleine Tiere über ihr Fleisch
hermachen und nur das zurücklassen, was sie wiederum verschmähten. Irgendwann
würden ihre Knochen weiß gebleicht sein, und dann würden selbst sie zerfallen,
und niemand erführe je, was aus ihr geworden war. Weder ihre Familie noch ihre
Freunde oder die abgelegten Liebhaber, die sie zurückgelassen hatte. In einer
Million Jahre wäre sie vermutlich zu einem Fossil geworden, und irgendein
zukünftiger Paläontologe würde sie ausgraben und sich fragen, was sie hier, so
weit abseits von jeder menschlichen Besiedlung, gesucht hatte.
    »Gottverdammt, nein!«, kreischte sie. »Ich bleibe nicht hier, wenn
ich schon so weit gekommen bin! Nicht hier an diesem Ort!«
    Ihr Schrei hallte durch den Wald. Ein paar Nadeln rieselten von
einer Fichte, die in einem Winkel von dreißig Grad aus dem Waldboden
hervorwuchs.
    »Das kommt nicht infrage«, sagte
Chey, als würde das laute Aussprechen dafür sorgen, dass es auch
geschah.
    In der Ferne erwiderte ein Vogel
ihren Ruf mit einem glockenähnlichen hohen Laut, der ihr unbekannt war.
Es klang beinahe schon mechanisch, weniger wie ein Tierlaut als wie etwas von Menschen Erschaffenes. Vielleicht war es
ja gar kein Vogel gewesen. Es klang beinahe wie eine Gabel, die

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