Frostbite
gehört hatten.
Wieder war der Ruf zu hören. Er hatte keinerlei Ähnlichkeit mit der
traurigen Klage der Wölfe. Er war kälter, Furcht einflößender. Hasserfüllt.
Die Wölfe unter Cheys Ast stoben auseinander und verschwanden so
lautlos in der Dunkelheit, wie sie gekommen waren. Da ertönte der Ruf zum
dritten Mal, diesmal aber war er viel näher.
3 Chey
schob sich rückwärts. Sie verspürte das Bedürfnis, sich so dicht wie möglich am
Baumstamm zu halten, möglichst viel festes Holz um sich zu haben. Jedes Mal
wenn das ohrenbetäubende Brüllen aus dem Wald aufstieg, breitete sich ihre
Gänsehaut weiter aus und kroch ihr über den Rücken.
Dort unten lauerte etwas, etwas Wütendes und Lautes. Etwas so
Bösartiges, dass es ein ganzes Rudel Timberwölfe
vertrieb. Was war das? Ein Bär? Aber das Geräusch hatte sich nicht nach
einem Bären angehört, zumindest nicht nach einem Bären, wie sie ihn aus Filmen
oder vom Fernsehen her kannte.
Ununterbrochen behielt sie den
Boden ring um ihren Baum im Auge und suchte nach Hinweisen – flüchtigen
Bewegungen, Pfotenabdrücken, niedrigen Ästen, die noch federten, weil sich
etwas daran vorbeibewegt hatte.
Aber da war nichts. Nicht einmal die Spur zweier funkelnder Augen
oder die Reflexe von schimmerndem Fell, das sich
verstohlen durch das Unterholz schob. Es gab auch nichts zu hören. Chey
richtete sämtliche Sinne auf den Boden, hielt die Luft an und lauschte dem
Ächzen des Baums, dem leisen Knarren des Asts, auf dem sie lag. Ein Hecheln
hörte sie nicht, auch keine nahezu lautlosen Schritte. Vielleicht war das Tier
verschwunden. Vielleicht hatte es ihr nie Aufmerksamkeit geschenkt –
vielleicht hatte es nur so geheult, weil es die Timberwölfe rief. Vielleicht
hatte es sie gar nicht wahrgenommen. Vielleicht konnte es sie hier oben auf dem
Baum nicht einmal hören oder riechen.
Dann krachte es laut, als etwas
Großes über den Waldboden eilte, und um ein Haar hätte Chey vor Entsetzen
aufgeschrien. Sie verspürte den verzweifelten Drang zu urinieren, aber sie
presste die Beine noch enger um den Ast, und das half ein wenig.
Die Kreatur schnaubte keine zehn Meter entfernt. Schob sich wie ein
schnüffelnder Eber mit der Nase durch das Unterholz. Versuchte ihren Geruch
aufzunehmen, da war sich Chey sicher. Sie griff in die Tasche und umklammerte
das tröstende Handy. Vielleicht war der Augenblick gekommen, in dem sie um
Hilfe rufen musste. Vielleicht war es schon so weit. Aber nein, selbst das wäre
sinnlos gewesen. Keine Retter konnten rechtzeitig
genug eintreffen, um sie zu befreien. Sie umklammerte das Telefon so
fest, als wäre es ein magischer Talisman, der sie beschützte. Falls
erforderlich konnte sie es immer noch wie einen Stein werfen. Von den
Gegenständen in ihrem Besitz kam es einer Waffe am nächsten.
Chey klammerte sich an den Baumstamm und klemmte die Beine fest um
den Ast. Sie atmete durch die Nase, versuchte nicht in Panik zu verfallen und
rührte sich nicht.
Natürlich änderte das die Situation in keiner Weise. Vermutlich nahm
das Wesen sie aus einer Entfernung von Kilometern wahr.
Und dann sah Chey es. Es hatte sich nicht im Geringsten bewegt, als es Unsichtbarkeit gegen Sichtbarkeit
eintauschte, aber plötzlich bewegte es sich dort unten. Viel zu nahe. Wie
flüssiger Schatten wand es sich um die Birke, wie auf den Boden geschüttete
Dunkelheit.
Dann verharrte es, und unter der
faltigen Haut spannten sich Muskeln. Chey hielt den Atem an. Die Bestie
blickte in die Höhe.
Dieser Schrecken war nicht viel
größer als die Timberwölfe, maß von Nase bis Schwanzspitze vielleicht
zwei Meter, wies eine Schulterbreite von möglicherweise anderthalb Metern auf.
Er hatte das breite Antlitz der Wölfe. Der Hauptunterschied bestand in den Zähnen. Natürlich verfügten die Timberwölfe über
viele spitze gelbe Zähne. Dieses Monster besaß gewaltige perlweiße Reißzähne.
Es gab einfach kein anderes Wort dafür. Sie
waren gewaltig und so breit, dass sie die Lefzen zur Seite drängten. Als
wären sie allein dafür gemacht, Knochen zu zermalmen. Große Knochen.
Menschenknochen.
Der andere Unterschied zwischen
dieser Kreatur und den Timberwölfen bestand in den Pfoten, die im Schnee
versanken. Breit wie menschliche Hände, endete jedes Glied in einer langen
gekrümmten Kralle. Das Fell war silbern und schwarz gesprenkelt und viel
auffälliger in seiner Farbe als die matten Pelze der Timberwölfe.
Das alles nahm Chey mit einem Blick in sich
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