Frostengel
Kleingeld und immerhin ein Zehneuroschein. Aus meiner eigenen Hose holte ich mein Handy hervor. Der Akku war leer und es war aus. Schon vorgestern Abend war es mir so dreckig gegangen, dass ich die Hose einfach auf den Boden geworfen hatte.
In meinem Zimmer steckte ich das Handy zum Aufladen an. Es dauerte ein paar Minuten, bis es sich überhaupt einschalten ließ. Der Signalton ertönte. Ich hatte mehrere Nachrichten erhalten: vier SMS und zwölf verpasste Anrufe. Einen Moment lang wusste ich nicht, zu wem die Nummer gehörte, von der ich zehnmal angerufen worden war, das letzte Mal heute Morgen, als ich mit Corinna gemütlich beim Frühstück gesessen hatte. Aber dann erkannte ich die Nummer doch. Warum hatte Julia von ihrem Festnetzanschluss angerufen, wo sie doch sonst immer von ihrem Handy aus telefonierte?
Ich wählte Julias Handynummer. Es läutete und läutete, aber sie hob nicht ab. Schließlich hinterließ ich eine Nachricht, sie solle mich zurückrufen. Danach versuchte ich es am Festnetzanschluss. Dort war besetzt.
Komisch. Julia war sonst immer erreichbar, man könnte schon fast sagen, sie war mit ihrem Handy verwachsen. Bestimmt hatte sie sich bei mir angesteckt und lag ebenfalls im Bett, wäre ja kein Wunder. Ich wählte erneut und endlich hob Frau Mechat ab.
»Theresa, Gott sei Dank! Bitte sag mir, dass Julia bei dir ist«, sagte sie atemlos.
Mein Magen zog sich zusammen, als ich die Panik in ihrer Stimme hörte.
»Nein. Hier ist sie nicht. Was ist passiert?«
»Sie ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen. Ich habe solche Angst, dass ihr etwas passiert ist … hätte sie doch angerufen! Das hat sie immer getan, dann hätte ich sie abholen können! Warum hat sie nicht einfach angerufen?«
»Vielleicht war der Handyakku leer. Oder sie hat wen kennengelernt«, sagte ich, um Frau Mechat zu beruhigen. Gleichzeitig wurde mir bewusst, wie bescheuert das klang. Julia war nicht so, sie übernachtete nicht einfach bei irgendwem und sagte niemandem Bescheid.
Unwillkürlich drängten sich mir die Schlagzeilen und Nachrichtenbeiträge der letzten Wochen auf: Tote am Feld gefunden! Das Mädchen war kaum älter als ich gewesen. Melissa S. erfroren! Nein, Melissa Schikol war nicht einfach erfroren, sie hatte sich umgebracht. Und außerdem gab es keine Gemeinsamkeiten zwischen ihr und Julia. Ich verdrängte die Bilder von Melissa, die sich hartnäckig in meinem Kopf einnisten wollten. Wir lebten in einem Dorf. Wie wahrscheinlich war es, dass gleich zwei Mädchen innerhalb weniger Wochen etwas zustieß? Eins zu einer Million? So gut wie unmöglich. Alles war gut.
Ich räusperte mich. »Vielleicht ist sie bei Jennifer oder Sandra?« Jennifer war Julias zweitbeste Freundin. Möglicherweise wollte Julia einfach mal in Ruhe gelassen werden. Die Überfürsorglichkeit ihrer Eltern war ihr in letzter Zeit auf den Nerv gegangen. Kein Wunder, dass sie das nicht mehr ertragen hatte. Seit dem Tag, an dem Julia im Wald auf Melissas Leiche gestoßen war, fragten alle in der Schule danach, ihre Eltern saßen ihr förmlich auf der Pelle mit ihrer Besorgnis. Und Julia zog sich mehr und mehr zurück, auch vor mir. Ich musste hart schlucken. Vielleicht wollte sie ja nur einfach mal ausbrechen?
Dennoch wusste ich tief in mir, dass Julia trotz allem Bescheid gegeben hätte, dass sie die Nacht nicht zu Hause verbringt. Bei den Mechats war das anders als bei uns. Dort sagte man, wo man hinging und wann man voraussichtlich wieder zurückkam. Dort meldete man sich, wenn es später wurde als geplant. Dort machte man sich Sorgen, wenn einer sich verspätete, ohne anzurufen.
»Ich habe schon mit beiden telefoniert. Sie haben keine Ahnung, wo sie sein könnte. Gestern Abend war sie im Grätzel. Sie hat mich angerufen, dass sie etwas später kommen würde – und dass ich sie nicht abzuholen brauche, sie würde den Bus nehmen.«
»Den Bus?« Ausgerechnet, wenn sie alleine unterwegs war? Warum um alles in der Welt hatte sie das allein durchziehen wollen, warum hat sie nicht damit gewartet, bis es mir wieder besser ging und ich sie hätte begleiten können? Ich wusste nicht, was ich tun, was ich sagen sollte. Ich wusste gar nichts mehr. Bloß, dass Julia, meine beste Freundin, seit gestern Nacht spurlos verschwunden war.
»Ja, sie meinte, der Bus fährt ja direkt vom Grätzel zu unserer Haustür. Sie hat geradezu darauf bestanden und ich …« Frau Mechat seufzte. »Fällt dir denn gar niemand ein, den ich noch fragen
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