Frostengel
Unterfangen doch war. Vielleicht stand Leons Name ja gar nicht dran. Ich hatte mir auch nicht zurechtgelegt, was ich tun wollte, wenn ich vor seiner Wohnungstür stand. Sollte ich einfach klingeln und sagen: »Hallo, hast du meine Freundin gestern gesehen, ihr vielleicht etwas getan?«, oder vielleicht: »Ich weiß, dass du Julia ständig beobachtet hast. Warum weißt du dann nicht, wo sie steckt?«, oder noch besser: »Stalken hat dir wohl nicht mehr gereicht – wo hältst du Julia versteckt?«
Die eine Straßenseite hatte ich bereits abgegrast und ich wollte schon aufgeben, als ich an einer Jugendstilvilla, die zu Wohnungen umgebaut worden war, endlich das ersehnte Messingschild entdeckte. Thalmayer stand da in geschwungener Schrift. Ich zögerte. Doch dann dachte ich an Julia und drückte auf die Klingel. Wenn er vor mir stehen würde, ich ihm ins Gesicht sehen könnte, würde mir schon einfallen, was ich sagen sollte.
Ich klingelte noch einmal, wartete und versuchte es ein drittes Mal. Dass er gar nicht zu Hause sein würde, hatte ich in meinem grandiosen Plan nicht bedacht. Ich konnte nicht verhindern, dass eine Träne meine Wange hinunterlief. Was war los mit mir? Ich war doch sonst nicht so nah am Wasser gebaut. Ich schniefte und hob den Kopf. Der Schnee fühlte sich wunderbar kühl auf meinem erhitzten Gesicht an. Ich spürte, wie er schmolz. Ich blinzelte und ließ die Tränen ungehindert fließen.
Ich blickte mich um. Von hier aus war es nicht weit zum Grätzel. Auch wenn ich mir nicht viel davon versprach, dort nachzufragen, wollte ich es wenigstens versuchen. Vielleicht hatte dort gestern jemand Julia gesehen oder mit ihr gesprochen. Außerdem musste ich mich irgendwohin setzen, mich aufwärmen. Meine Füße fühlten sich mittlerweile an wie Eisklumpen.
Beim Aufwärmen würde ich mir meine weiteren Schritte überlegen. Es kam selten genug vor, dass ich handelte, ohne nachzudenken. Leon zu besuchen, war ein spontaner Entschluss gewesen und ich hatte ja gesehen, wohin mich das führte – nirgendwohin. Ab jetzt würde ich mein Hirn einschalten und planen. Darin war ich gut. Nicht umsonst gehörte Mathe zu meinen Lieblingsfächern. Selbst Wahrscheinlichkeiten, unbekannte Größen, Variablen konnte man berechnen. Aber das hier war kein simples Matheproblem. Meine beste Freundin war verschwunden.
Das Grätzel war ein Café, das fast ausschließlich von Schülern besucht wurde. Es gab da eigentlich nichts Besonderes. Eine Musikbox, einen Billardtisch, der so gut wie immer besetzt war, eine tolerante Besitzerin, die nicht fragte, warum manche Schüler den Vormittag bei ihr anstatt in der Schule verbrachten. Sie hatte sich noch nie darüber aufgeregt, dass die Jugendlichen knutschend den ganzen Nachmittag bei einer einzigen Cola herumsaßen. Für einige war das Grätzel praktisch ihr Zuhause. Sie machten dort sogar ihre Hausaufgaben. Das Einzige, was fehlte, war eine WLAN-Verbindung, um im Internet zu surfen.
Das Grätzel war trotz des miesen Wetters gut besucht. Überall standen Jugendliche herum, quatschten miteinander und lachten. Mir kam es wie Hohn vor. Wie konnten sie so tun, als sei alles wie immer?
Die Wärme, die drinnen herrschte, traf mich wie ein Keulenschlag. Hatte ich mich vorhin noch danach gesehnt, endlich im Trockenen zu sein und vor der Kälte zu fliehen, wünschte ich mich jetzt wieder hinaus auf die Straße. Der Rummel und die Hitze hier drinnen war mir zu viel. Draußen war es wenigstens ruhig gewesen.
Ich stapfte mir den Schnee von den Schuhen, wickelte mir meinen Schal vom Kopf und schüttelte ihn aus. Kleine Tropfen flogen durch den Raum.
Einige Bekannte nickten mir zu. Ich steuerte die Bar an, wo ich einen freien Hocker entdeckt hatte. Mir wäre es lieber gewesen, wenn ich irgendwo weiter hinten einen Tisch ergattert hätte, aber alle waren besetzt.
Du bist eh nicht zum Vergnügen hier, du willst etwas über Julia erfahren!, rief ich mir ins Gedächtnis.
Bei dem schlaksigen Kellner bestellte ich einen grünen Tee mit Zitrone und blickte mich im Café um. Ein paar Leute aus meiner Stufe waren auch da. Ich rutschte von meinem Sitz und ging zu ihnen hinüber.
»Hi, Theresa. Geht’s dir wieder besser?«, fragte mich die immer allzu neugierige Claudia, als ich vor ihr stand. Claudia ging mit Julia und mir in eine Stufe, und wenn jemand die Bezeichnung Obertussi verdiente, dann sie. Aber jetzt könnte mir ihr Wissensdrang, was die Angelegenheiten anderer Leute anging, vielleicht
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