Frostengel
war, und biss mir auf die Lippen, während ich wartete, dass das Bild die Runde gemacht hatte. Kopfschütteln von allen. Aus dem hinteren Raum drang Gelächter und ich hörte Billardkugeln aneinanderstoßen.
»Danke«, brachte ich heraus und wandte mich Richtung Billardzimmer. Meine Beine fühlten sich gummiartig an und in meinem Kopf pochte es. Vernünftiger wäre es gewesen, nach Hause zu gehen und mich ins Bett zu legen. Doch Vernunft half mir nicht, etwas über Julia zu erfahren, also trat ich in das dunkle Hinterzimmer zum Billardtisch.
»Hallo, sorry, dass ich störe, aber meine Freundin ist seit gestern Abend verschwunden. Habt ihr sie gesehen?«, fragte ich die beiden Jungs und deren Freundinnen, die gerade dort spielten.
»Das ist doch Julia Mechat«, meinte einer, nachdem er sich flüchtig das Foto angesehen hatte.
»Die war gestern hier. Ich habe sie vorne im Café gesehen«, fügte eines der Mädchen hinzu.
»Weißt du noch, wann das war?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich glaub so gegen acht. Aber danach ist sie mir nicht mehr aufgefallen.«
»Danke. Und ihr?«, wandte ich mich an die beiden anderen.
»Ich war gestern gar nicht da und Basti …«, das Mädchen deutete mit dem Kopf auf den Jungen, der gerade versuchte, eine Kugel zu versenken, »… auch nicht.«
»Danke trotzdem.« Ich hatte mittlerweile das Gefühl, dass meine Fragerei sinnlos war. Die einen waren nicht hier gewesen, die anderen hatten Julia zwar bemerkt oder sogar mit ihr gesprochen, doch keiner hatte sie, nachdem sie zur Tür hinausgegangen war, noch gesehen.
Mutlos schleppte ich mich zu meinem Platz zurück. Meine Kopfschmerzen wurden von Minute zu Minute heftiger. Julia war in den letzten Wochen tatsächlich komisch gewesen, da musste ich Claudia widerwillig recht geben. Kein Wunder, bei all dem, was sie durchgemacht hatte. Aber das hieß noch lange nicht, dass sie einfach so, ohne ein Wort, abhauen würde. War ihr also doch etwas zugestoßen? Wieder kamen die Bilder von Melissa in mir hoch. Auch damals war ihr doch Leon auf den Fersen gewesen, sie war ihm schließlich kurz nach ihrem grausigen Fund in die Arme gelaufen! Bevor ich wieder zu seiner Wohnung ging, würde ich mir aber die richtigen Worte zurechtlegen, keine Ahnung, wie man mit so einem Psycho redet. Aber was, wenn sie einfach nur ausgerissen war, weggelaufen von all den Fragen und besorgten Blicken? Wohin würde sie gehen?
Ich setzte mich auf den Hocker, gab zwei Löffel Zucker in den Tee. Gedankenverloren rührte ich um und kostete mit dem Löffel. Hätte sie es mir tatsächlich gesagt? Immer wenn Julia mich brauchte, war ich nicht bei ihr gewesen, fiel mir ein. Als ihr letzter Freund mit ihr Schluss gemacht hatte, musste ich auf meine kleine Schwester aufpassen, anstatt zu ihr zu gehen und sie zu trösten. Und nach einem heftigen Streit mit Sandra, als Julia meinen Zuspruch gebraucht hätte, saß ich in irgendeinem noch kleineren Kaff als Kleinhardstetten fest, weil meine Mutter sich eingebildet hatte, wir müssten Urlaub auf dem Bauernhof machen. Und was für ein Reinfall das gewesen war! Julia hatte mich zwar angerufen, aber das war halt nicht dasselbe, als wäre ich bei ihr gewesen. Und zuletzt war sie auch, als sie Melissa tot auf diesem Feldweg gefunden hatte, alleine unterwegs, weil ich mit Corinna Mathe lernen wollte. Julia meinte, sie würde die Zeit dazu nutzen, ihr Videoprojekt für Kunst fertigzumachen. Sie brauchte noch ein paar Aufnahmen von verschiedenen Sträuchern und Bäumen. Und während ich versuchte, Corinna Gleichungen zu erklären, stolperte Julia über Melissas Leiche. Claudia hatte gemeint, dass Julia seither nicht sie selbst gewesen war, aber Julia war nun mal nicht der Typ Mensch, der solch ein Erlebnis abschüttelte wie ein Hund das Wasser aus seinem Fell. Sooft ich mit ihr darüber sprechen wollte, blockte sie ab und wechselte das Thema. Ich hätte hartnäckiger sein sollen, hätte sie dazu zwingen müssen, sich mir anzuvertrauen. Schließlich war ich ihre Freundin. Ja und genau deswegen wolltest du sie nicht auch noch unter Druck setzen, rief ich mir ins Gedächtnis. Es war ja nicht nur, dass sie Melissa entdeckt hatte. Ihre Eltern fragten sie ständig, wie es ihr ging. Und einige Mitschüler hatten Julia pausenlos gelöchert. »Wie hat die Leiche ausgesehen? Hast du dich gegruselt?« Julia hatte diese blöde Fragerei sattgehabt, das war mehr als deutlich gewesen. Und da wollte ich mich nicht auch noch
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