Frostengel
nicht zu helfen.«
Dann ging er. Ließ mich stehen, einfach so. Ich lief hinter ihm her. »Leon!«
Er drehte sich nach mir um. »Was? Hast du noch mehr Unterstellungen für mich auf Lager?«
Die plötzliche Hitze in meinen Wangen kam bestimmt vom Fieber. »Es ist nur … ich bin … also …« Verflixt, warum brachte ich keinen ganzen Satz mehr heraus?
Ein paar Sekunden stand er noch da, wartete darauf, dass ich was sagte. Doch als nichts kam, öffnete er die Eingangstür zum Grätzel und verschwand gleich darauf in dem Lokal.
Leon war mir auf den Geist gegangen mit seiner ständigen Anwesenheit, mit diesem schmachtenden Blick aus seinen braunen Dackelaugen, der zugegeben sogar ein wenig niedlich war. Und wenn er log und nur so tat, als wüsste er nichts von Julias Verschwinden? Wenn er sie in Wirklichkeit abgepasst, ihr aufgelauert hatte, als sie auf dem Heimweg war? Sie hätte sich vor ihm nicht gefürchtet, wahrscheinlich wäre sie sogar froh gewesen, nicht allein unterwegs sein zu müssen.
Doch wo steckte sie? War sie in Leons Wohnung? Womöglich hatte er ihr K.-o.-Tropfen in ihr Getränk gemischt um … um was mit ihr zu tun? Schreckliche Bilder schossen mir durch den Kopf. Ja, schon klar, ich hatte immer noch Fieber – da kann einem die Fantasie schon mal durchgehen! Leon sah nun echt nicht wie ein Vergewaltiger aus, aber – Leons Innenwelt war undurchdringlich und dunkel. Geheimnisvoll. So einfach würde ich nicht aufgeben.
Ich schlug den Weg zur Bushaltestelle ein, den Julia gegangen sein musste, als sie gestern das Grätzel verließ.
Ich hatte sie dafür belächelt, aber Julia war immer der Überzeugung gewesen, dass zwischen Menschen, die sich nahestanden, eine spürbare Bindung war. Eine Verbundenheit, die auch dann nicht abriss, wenn man räumlich getrennt war. Immer wenn sie davon anfing, grinste ich in mich hinein und fragte mich, wie ein vernünftiger, fast erwachsener Mensch an solche Märchen glauben konnte. Meine Argumente wischte Julia einfach beiseite. »Wie erklärst du dir, dass meine Mutter gefühlt hat, als ich mir im Kindergarten das Bein gebrochen habe? Oder Zwillinge: Man hört doch oft, dass sie sich ganz ähnlich entwickeln, auch wenn sie von Geburt an getrennt aufwachsen.« Auf sämtliche meiner Argumente hatte sie ein Gegenargument parat, sodass ich sie einfach weiterreden ließ. Schließlich konnte jeder glauben, was er wollte.
Ich ging die Gasse entlang, bis ich zu dem Pfad zur Haltestelle kam, und stellte mir vor, wie Julia genau hier entlanggekommen war. Was mochte sie gesehen haben? Soweit ich wusste, war bald Neumond. Hatten die Laternen am Wegrand geleuchtet? Oder war es stockfinster gewesen? Ich versuchte zu fühlen, was Julia empfunden haben musste. Doch alles, was ich spürte, war meine Angst um sie.
Kapitel 4
Ohne es zu merken, stand ich plötzlich vor der Bushaltestelle. Ich sah mir den Fahrplan an und beschloss, die acht Minuten zu warten, bis der Bus kam. Der Fußmarsch dauerte etwa eine halbe Stunde. Julia und ich gingen meistens zu Fuß. Wir nannten das unsere Fitnessübung. Ganz selten nahmen wir den Bus, meist nur, wenn es aus Kübeln schüttete oder wenn es eiskalt war, wie jetzt.
Dass auch heute Harald fahren würde, bezweifelte ich. Nicht, wenn er gestern Abend Dienst gehabt hatte.
Der Bus bog um die Kurve, hielt vor mir und die Tür ging zischend auf. Ich hatte recht behalten. Der Fahrer, ein älterer Mann, war ebenfalls unserer Linie zugeteilt. Niemand außer mir stieg zu, im Fahrzeug selbst saßen bloß ein Typ, den ich nicht kannte, und Frau Steurer, die wahrscheinlich am Friedhof gewesen war. Sie wohnte in meinem Wohnhaus im Erdgeschoss.
»Einmal bitte«, sagte ich zu dem Fahrer, während ich in meiner Hosentasche nach Kleingeld kramte.
»Passt schon! Lass gut sein, sind ja bloß zwei Stationen«, winkte der Fahrer ab.
Ich bedankte mich und nahm gleich hinter ihm Platz. Während er ruckelnd losfuhr, schaute ich aus dem Fenster. Kleinhardstetten war ein Kaff. Es gab hier nichts außer Siedlungshäusern, einem Friseursalon, wo ich mir nicht einmal unter Todesandrohung die Haare schneiden lassen würde, einem Kiosk, einem Gasthaus, in dem meine Mutter meist rumhing, einer Kirche und einem praktischen Arzt. Vor einigen Jahren hatte es auch eine Postfiliale gegeben, doch die hatte die Schließungswelle nicht überlebt. Praktischerweise lag die Bushaltestelle in der Ortsmitte vor der Kirche. Ich wohnte in den neu gebauten Mehrfamilienhäusern am
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