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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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dann allmählich flüssiger. Aber sie war noch immer unendlich träge. Weglaufen war vollkommen ausgeschlossen.
    Der Junge führte sie an der Hand in den Vorraum und schloss die Schlafzimmertür hinter ihnen. Dann begleitete er Maus zum Eingang der Suite.
    »Wer ist sie?«, fragte Maus mit krächzender Stimme. »Und wer bist du?«
    Er schüttelte hastig den Kopf, nickte zum Schlafzimmer hinüber, dann zur Tür. Sie war angelehnt. Maus graute bei der Vorstellung, dass der Rundenmann sie auf der anderen Seite erwartete.
    Erlen öffnete ihre Finger mit seiner Hand und schob die Brosche hinein. Dann schloss er ihre Faust darum wie die einer Puppe.
    Maus starrte ihn verständnislos an.
    Der Junge zog die Tür auf. Der Korridor draußen war leer. Maus trat zögernd an ihm vorbei, blickte nach links, dann nach rechts. Niemand war zu sehen.
    Der Junge schob sie hinaus. Geh!, flehte sein Rehblick. Schnell!
    Maus begriff noch immer nicht gänzlich. Ließ er sie laufen? Tatsächlich, ja! Er hatte sich dem Befehl der Frau widersetzt und den Rundenmann gar nicht gerufen. Er hatte für sie gelogen. Für Maus!
    Ehe sie ihm danken oder sich auch nur zu ihm umdrehen konnte, fiel hinter ihr die Tür ins Schloss.
    Maus stand allein neben ihrem Schuhkarren, die Brosche in der schweißnassen Hand, benommen, aber jetzt allmählich klarer, wacher, beweglicher, auch in ihrem Verstand.
    Er hat mir geholfen, dachte sie mit grenzenloser Verwunderung.
    Er hat das wirklich für mich getan.
Das Kapitel über die bunte Frau hinter Glas. Und einen Koffer voller Worte
    Um in aller Ruhe nachzudenken, ging Maus oft ins bodenlose Treppenhaus. Nur sie nannte es so, und nur sie kam noch hierher. Das Treppenhaus befand sich im hintersten der vielen Flügel des Hotels, ferner ab von der Pracht des Newski Prospekt als jeder andere Winkel der Nobelherberge. Tatsächlich war dies der älteste Teil des Gebäudes, wo vor vielen Jahren ein gewisser Herr Polonskij die erste Pension Aurora eröffnet hatte, im vierten und fünften Stockwerk eines turmähnlichen Gemäuers, das damals zwischen zwei anderen Häusern eingezwängt gewesen war. Beide waren später abgerissen worden; das eine, um Platz für einen weiteren Trakt des Hotels zu schaffen, das andere, um dort einen Garten für die Gäste anzulegen. Auch dieser Garten war längst verschwunden. Heute standen dort hölzerne Schuppen.
    Das Gebäude selbst, die Keimzelle des Aurora, stand seit mehr als zehn Jahren leer. Die Zimmer waren viel zu eng für die Ansprüche der reichen Gäste, und das Verlegen elektrischer Leitungen hatte sich als unmöglich erwiesen. Akute Brandgefahr, hatte man die Direktion gewarnt. Zudem könnten Mauerwerk und Gebälk einstürzen, ein Abriss sei höchst ratsam.
    Seither waren alle Verbindungstüren zu dem alten Gebäudeflügel verschlossen. Man hatte sie übertapeziert und für die Gäste unsichtbar gemacht. An einen der rostigen Schlüssel heranzukommen, war für Maus kein Problem gewesen, doch eine Tür zu finden, die sich von außen unbemerkt öffnen ließ, ohne Tapete oder Farbe zu beschädigen, hatte sich als weitaus schwieriger erwiesen. Schließlich aber hatte Maus sogar zwei davon entdeckt – eine im Erdgeschoss, eine in der vierten Etage.
    Das bodenlose Treppenhaus war ein runder Schlauch im Herzen des verlassenen Hoteltrakts. Eine breite Wendeltreppe führte ohne Zwischenabsätze an der Wand entlang, mit festem, gemauertem Geländer, dessen Oberfläche von zahllosen Händen glatt geschliffen war. Während der wärmeren Jahreszeiten fiel Licht durch eine Glaskuppel, getragen von einem filigranen Netzwerk eiserner Streben, die von unten betrachtet die Form einer Rosenblüte bildeten. Einst mochte die Kuppel als Kunstwerk gegolten haben, doch heute war das Glas mit Schmutz und Taubenkot verkrustet. An manchen Stellen hatte das Gewicht des Schnees einzelne Scheiben zerbrochen; durch die Löcher rieselten unablässig Fäden aus Eiskristallen in die Tiefe.
    Das Treppenhaus war nicht wirklich bodenlos, obgleich es von oben so aussah. Schaute man im Dachgeschoss über das Geländer, konnte man selbst bei Tageslicht kaum bis zum ersten Stock hinabsehen. Die Fliesen im Erdgeschoss waren aus schwarzem Schiefer, und der Schmutz des vergangenen Jahrzehnts hatte das Seine getan, den Steinboden unsichtbar zu machen. Selbst bei genauem Hinsehen schien es, als verschwände die graue Treppenspirale in einem endlosen, tiefschwarzen Abgrund.
    Maus schwang sich zum Nachdenken gern rittlings

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