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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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auf das Geländer; das war der gefährlichste Teil, denn wenn sie dabei zu viel Schwung nahm, drohte sie auf der anderen Seite herunterzufallen. Sobald sie sicher saß, stieß sie sich mit beiden Händen ab und glitt rückwärts in die Tiefe. Auf der weiten Schneckenhausbahn des Treppengeländers rutschte sie gemächlich abwärts. Mittlerweile hatte sie genug Erfahrung darin, um genau zu wissen, wie kräftig sie sich abstoßen musste, um ohne Unterbrechung das gesamte Geländer hinabzurutschen. Vier Minuten von oben bis unten. Und immer, wirklich immer kam sie am Ende des bodenlosen Treppenhauses mit einer Idee an. Einem Einfall, der ihre Probleme löste. Zumindest einem Gedanken, der ihr Mut machte und sie aufbaute.
    Heute schlug der Versuch zum ersten Mal fehl. Sie zerbrach sich beim Hinabrutschen den Kopf darüber, was sie als Nächstes tun sollte. Die Hoteldirektion über die gefährliche Frau in der Zarensuite informieren? Womöglich wusste man dort, wer sie war, und Maus würde sich mit ihrer Meldung nur Ärger einhandeln. Noch einmal Kontakt zu dem stummen Jungen aufnehmen? Aber war er bereit, ein zweites Mal Strafe zu riskieren, nur um sich mit ihr zu treffen?
    Und was hatte dieses Gerede von der bunten Frau zu bedeuten? Warum konnten sie und die Fremde in der Suite einander riechen, noch dazu an Maus? Das war nun wirklich mehr als nur sonderbar.
    Sie passierte gerade die zweite Etage – Dunkel, Staub und hohle Echos überall –, als sie dachte, dass es wohl das Beste wäre, sich von beiden in Zukunft fern zu halten. Und auch den Jungen zu vergessen.
    Mit einem leisen Seufzen rutschte sie vom blank geschliffenen Sockel im Erdgeschoss, verwundert, dass sie schon unten war, und landete schmerzhaft auf dem Hinterteil.
    Es gab noch eine Möglichkeit.
    Du musst lernen, das Hotel zu verlassen, sagte sie sich. Einfach von hier fortgehen. Dann sieht es nicht aus, als würdest du weglaufen, sondern, ganz im Gegenteil, als hättest du einen Sieg errungen. Über dich selbst und deine Ängste.
    Schließlich aber dachte sie an die Weite dort draußen. Den Schnee. Und die Kälte. Aber Kälte gab es auch hier im Hotel, oben in der Suitenetage. Maus war nicht mal sicher, welche die schlimmere war.
    Geh fort von hier, flüsterte es in ihrem Kopf. Beweise dir, dass du es kannst.
    Sie saß da und blickte zu der dunklen Kuppel hinauf. Schneekristalle rieselten ihr durch das zerbrochene Glas entgegen wie Sterne, so als fiele der Himmel auf sie herab. Oder gar sie selbst in die Nacht hinein.
     
    *
     
    Panniki gab es am nächsten Tag zum Abendessen. Pfefferkuchen. Das war Maus’ Leibgericht, auch wenn sie das selbstverständlich nie erwähnt hatte. Allein aus Gehässigkeit hätten sonst die anderen alles aufgegessen.
    Maus kam meist zu spät zum Essen. Für viele der Jungen und Mädchen, die im Hotel beschäftigt waren, war dies die letzte Mahlzeit des Tages. Für Maus aber war es die erste. Manchmal argwöhnte sie, dass ihre Polierschicht in den Dampfbädern vom Concierge mit voller Absicht so gelegt worden war, dass sie erst dann zum Essen dazukam, wenn die Übrigen sich bereits gründlich bedient hatten.
    Pagen und Zimmermädchen, Küchengehilfen und Kellnerlehrlinge bekamen stets das, was die Gäste im Speisesaal übrig ließen. Meist waren es die Reste aus den riesigen Kochkesseln, die knusprigen Krusten der Backbleche und Überbleibsel aus Obst- und Gemüseschüsseln. Selten kehrte irgendjemand tatsächlich das Liegengelassene von den Gästetellern in die Töpfe, aus denen sich die Jungen und Mädchen ihre Mahlzeiten auf Blechteller schaufelten. Wer zuerst kam, musste garantiert keinen Hunger leiden. Die Letzte aber hatte oft das Nachsehen.
    Die Speisungen fanden in einem gekachelten Saal hinter der Küche statt, in dem auch Kartoffelsäcke und leere Milchkannen aufbewahrt wurden. Manchmal wuselte eine Hausmaus zwischen den Stuhlbeinen an der langen Tafel hindurch, was stets zu viel Geschrei und allerlei Versuchen führte, das arme Tier zu zertreten.
    Maus blieb niemals länger als nötig. Sie saß am hinteren Ende der Tafel, wo sie den Blicken der anderen und ihrer Häme schutzlos ausgeliefert war. Wann immer es möglich war, nahm sie ihren Teller und verzog sich damit nach vorn in die Küche. Die schwitzenden Frauen, die dort unter dem Kommando der Chefköche arbeiteten, waren zwar nicht viel freundlicher zu ihr als Maus’ Altersgenossen im Hinterzimmer, aber meist hatten sie zu viel zu tun, um ihr Beachtung zu

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