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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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schenken. So lange Maus sich vor den Blicken des griesgrämigen Gemüsekochs, des lüsternen Sauciers oder gar des allmächtigen Chef de Cuisine fern hielt, ließ man sie in Ruhe.
    Während sie aß, kam sie nicht los von dem Gedanken an den fremden Jungen. Ob auch er wegen seiner Sprachlosigkeit gehänselt wurde? Jemand, der sich gegen den Befehl einer Zauberin auflehnte – denn eine Zauberin musste die Frau wohl sein –, ließ sich so etwas gewiss nicht gefallen. Sicher hätte er auch keine Angst, das Hotel zu verlassen.
    Maus stocherte gedankenverloren mit dem Löffel im Restebrei auf ihrem Blechteller, kratzte Muster hinein, Linien und Winkel, ehe ihr auffiel, dass sie einen Eiskristall gezeichnet hatte.
    Das Hotel verlassen. Nach allem, was vor zwei Nächten geschehen war, war das ein absurder Gedanke. Und dennoch – vielleicht war es wirklich an der Zeit dafür.
    Du musst es nur tun. Einfach nur tun.
    Heute Nacht.
     
    *
     
    Der Stolz des Grandhotels Aurora war seine moderne Drehtür, die vom Foyer hinaus auf den breiten Gehweg des Boulevards führte. Es war ein monströses Ding aus Glas und Messing, unterteilt in vier Kabinen, jede einzelne groß genug, um mehreren Menschen Platz zu bieten. Das Glas reichte vom Boden bis zur Decke und wurde peinlichst sauber gehalten. Jeden Morgen wurden die großen Scheiben von der Direktion inspiziert. Ein Fingerabdruck zu viel hatte schon mehr als einen Bediensteten die Anstellung gekostet.
    Maus stand am anderen Ende der Eingangshalle und starrte über den Parkettfußboden zur Glastür hinüber. Das Foyer war ihr noch nie so riesig erschienen. Obwohl sich um diese Uhrzeit – drei Uhr in der Nacht – nur ein verschlafener Portier in der Halle aufhielt, kam es ihr vor, als läge ein Spießrutenlauf vor ihr.
    Zu ihrer Linken befand sich die gewaltige Eichenrezeption, länger als zehn Meter; sie war an der Vorderseite mit kunstvollen Schnitzereien bedeckt, die Szenen aus der glorreichen Geschichte des russischen Volkes zeigten. Von der gegenüberliegenden Wand starrten die Ölporträts der Zarenfamilie herab; Maus fand, dass die Kinder darauf schon jetzt wie alte Leute aussahen, ausgelaugt von jahrzehntelanger Herrschaft. Obwohl sie unermesslich reich waren, hatte Maus manchmal Mitleid mit ihnen. In gewisser Weise waren die Zarenkinder ebenso Gefangene wie sie selbst.
    Trotz der elektrischen Glühbirnen im Kronleuchter standen überall in der Eingangshalle schmiedeeiserne Kerzenleuchter, manche doppelt so hoch wie Maus und verzweigt wie ein junger Baum. Über der Rezeption funkelte das Licht auf einem gewaltigen goldenen Gong, der nur geschlagen wurde, wenn wichtige Persönlichkeiten das Aurora betraten. Es war das Zeichen für die Bediensteten, ein Spalier für den hohen Gast zu bilden. Jetzt leuchtete die runde Metallscheibe an der Wand wie ein Vollmond, der in der Halle eingesperrt war.
    Rechts von ihr, in der Seitenwand, befand sich die Gittertür des Lifts. Der Aufzug war gerade in einem anderen Stockwerk. Im Schein der Deckenlüster konnte Maus hinter den Metallstreben die Schlaufen dicker Ketten und Seile erkennen, mit deren Hilfe sich die Liftkabine auf und ab bewegte; es sah aus, als könnte man durch die Öffnung einen Blick auf bloßliegende Venen und Arterien des Gebäudes werfen.
    Die dreißig Meter bis zur Drehtür kosteten Maus ebensolche Überwindung wie schließlich der eine, zögernde Schritt, mit dem sie die gläserne Kabine betrat. Der Portier lehnte im Halbschlaf an der Wand, warf ihr unterm Rand seiner Mütze einen argwöhnischen Blick zu, registrierte, dass sie kein Gast war, sondern nur der Mädchenjunge, und senkte wieder das Gesicht. Falls ihn der Concierge so sehen würde, würde er ihn vermutlich hinauswerfen; doch der Concierge schlief um diese Zeit daheim im Bett, und die Nachtbesetzung der Rezeption ruhte sich in einem Hinterzimmer aus. In den Nächten und bei solch einem Schneesturm kam und ging ohnehin kein Gast.
    Maus trug über ihrer Uniform eine dicke Felljacke, die Kukuschka ihr geschenkt hatte. Mittlerweile war sie ein wenig eng geworden, aber noch passte sie leidlich. Dazu trug sie einen Schal, den sie aus dem Fundus liegen gelassener Kleidungsstücke stibitzt hatte. Sie hatte nicht vor, sich lange im Freien aufzuhalten. Es kam ihr nur auf den Versuch an. Einmal freiwillig das Hotel verlassen, und wenn es nur für ein paar Augenblicke war.
    Maus rührte sich immer noch nicht. Sie brachte es nicht über sich, die Hand zu heben und die

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