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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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gehabt haben; aber aufgefallen war es Maus nicht.
    »Du riechst nach ihr«, stellte die Frau fest. »Also lüg mich nicht an. Ich habe Erlen aufgetragen, den Nachtwächter zu holen. Ich werde dich ihm ausliefern, zusammen mit der Brosche, die du gestohlen hast. Was wird er dann wohl mit dir tun? Dich zur Polizei bringen? Auf jeden Fall bist du deine Arbeit los, kleines Mädchen. Willst du das wirklich?«
    Der Rundenmann würde all das tun, ganz ohne Zweifel. Aber erst, nachdem er sie gründlich verprügelt hatte.
    »Sie war vor dem Hotel«, sagte Maus mit schwacher Stimme. »Ich habe sie nur ein einziges Mal gesehen.«
    Die Frau atmete tief durch. »Sie weiß also, dass ich hier bin.« Ein Moment kurzen Nachdenkens, dann: »Hat sie dich nach mir gefragt?«
    »Nein.«
    »Bist du sicher?«
    »Nein. Ich meine, ja. Sie hat nicht gefragt. Ich kannte Sie ja auch gar nicht.« Die Furcht vor dem Rundenmann schärfte ihre Sinne noch einmal, fräste durch die Lähmung ihrer Gedanken wie ein Eisbrecher.
    »Was hattest du dann mit ihr zu tun?«
    »Sie hat mir geholfen. Draußen, im Schnee, hat sie mich zum Eingang getragen, als ich nicht mehr laufen konnte.«
    »So?« Die Frau runzelte die Stirn, und diesmal glättete sich ihre Haut nicht wieder. Jugend und Majestät entglitten ihr immer mehr. Eine Maske aus Eis, die langsam von ihr abschmolz. »Sie hat dich gewiss nicht ohne Grund gerettet. Wahrscheinlich hofft sie, dich dadurch als Helferin zu gewinnen. Eine kleine, flinke Helferin, die sich im ganzen Hotel auskennt wie in ihrer Uniformtasche, nicht wahr?«
    Maus wusste nicht, was die Frau von ihr als Antwort erwartete, daher sagte sie lieber gar nichts.
    Die Fremde richtete sich wieder zu voller Größe auf – sie war nun merklich kleiner als vorhin am Eingang – und ging zurück zum Fenster.
    Maus wollte sich zur Tür drehen, davonlaufen, nur weg hier – doch sie konnte sich nicht mehr rühren, nicht einmal ihre Fingerspitzen. Sie stand da, als gehörte sie zur Einrichtung der Suite, festgewachsen am Teppich. Nur ihre Augäpfel spähten in wilder Panik einmal nach rechts, einmal nach links.
    Die Frau verlor plötzlich jegliches Interesse an ihr. Maus blickte an ihr vorbei auf einen Winkel des Schlafzimmers, der ihr zuvor noch nicht aufgefallen war.
    Unweit des Bettes, in einer der Ecken, lag ein braunes Fell, das sie im ersten Moment für einen achtlos hingeworfenen Pelzmantel hielt. Dann aber erkannte sie, dass es sich um ein Rentierfell handeln musste. Unter einer Falte schaute traurig ein Stück der leblosen Schnauze hervor, eine breite schwarze Nase. Zum Zimmer hin war das Fellknäuel von drei kleinen runden Spiegeln umgeben, die flach auf dem Boden lagen und mit dem Glas zur Decke blickten. Sie waren nicht in Rahmen eingefasst und hätten ebenso gut kreisrunde Wasserpfützen oder Eisscherben sein können.
    Während Maus zu dem Fell und den drei Spiegeln hinübersah, hatte sie die Frau für einen Moment aus den Augen verloren. Nun war ihr auf einmal, als wüchse die Fremde außerhalb ihres Blickfeldes zum Doppelten ihrer Größe an, gewaltig und Ehrfurcht gebietend – aber als Maus wieder hinsah, stand die Frau unverändert am Fenster und hatte ihr den Rücken zugewandt. Schlank, groß, jedoch nicht so monströs, wie sie ihr einen Augenblick lang erschienen war.
    Versuchsweise sah sie noch einmal weg, und wieder überkam sie dieser erschreckende Eindruck. Doch als sie abermals zu der Frau blickte, hatte diese ihre ursprüngliche Gestalt wiedererlangt. Maus erinnerte sich vage an Figuren aus Märchen, die nicht das waren, was sie nach außen hin zu sein vorgaben. Nur aus dem äußersten Augenwinkel betrachtet, zeigten sie ihr wahres Ich, ihre wahre, erschreckende Größe.
    Du redest dir etwas ein, sagte sich Maus. Aber sie vermochte den Gedanken nicht zu Ende zu bringen, denn das Eis in ihrem Kopf ließ das nicht mehr zu.
    Wie viel Zeit verging, wusste sie nicht.
    Schließlich klopfte es an der Tür, und der Junge trat ein. Erlen hatte die Frau ihn genannt. Erschrocken sah er auf die reglose Maus, dann machte er eine Geste in Richtung seiner Herrin.
    Die Frau nickte langsam, ohne ihren Blick vom Fenster und ihrem Spiegelbild zu nehmen. Sie deutete auf eine Kommode. Dort lag die Brosche, die der Junge jetzt eilig an sich nahm. Er kam zu Maus herüber und berührte ihre Hand.
    »Geh mit ihm«, sagte die Frau. »Der Nachtwächter erwartet euch draußen auf dem Flur.«
    Maus konnte sich wieder regen, erst nur sehr steif,

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