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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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zurückgebracht werden konnte.
    »So, so«, sagte die weiße Frau in der Tür und verriet durch keine Regung, ob sie Maus durchschaut hatte oder nicht.
    Der Junge hatte sich in den Vorraum der Suite zurückgezogen. Maus konnte ihn nicht mehr sehen, aber sie vermutete, dass er nach wie vor neben der Tür stand.
    »Es tut mir schrecklich Leid, Ihnen solche Mühe zu bereiten«, sagte Maus, »aber wäre es vielleicht möglich, dass Sie kurz nachsehen? In … in den Schuhen, meine ich.«
    Die Frau musterte sie noch immer, dann blickte sie zur Seite, als wollte sie in Erfahrung bringen, was der Junge dazu meinte. »Hattest du nicht gemeint, die Schuhe seien gestern gar nicht geputzt worden?«, fragte sie ihn. Argwohn lag in ihren Worten, aber nicht in ihrem Tonfall; der blieb warm und melodiös.
    Ein Schreck durchfuhr Maus. In ihrer Aufregung hatte sie den denkbar gröbsten Fehler begangen: Natürlich waren die Schuhe gar nicht im Keller gewesen. Irgendjemand – der Junge oder die Frau – hatte sie ja wieder in die Suite gezogen, bevor Maus sie hatte einsammeln können! Es war derart dumm, eine so wichtige Sache zu vergessen, dass sie am liebsten laut geschrien hätte.
    Aber es war zu spät, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen. Außerdem, und das war das Erstaunlichste, hatte sie mit einem Mal einen Verbündeten.
    »Du hast dich geirrt?«, fragte die Frau den Jungen, so als hätte er etwas zu ihr gesagt. Vielleicht in Zeichensprache. Maus hatte jedenfalls nichts gehört. Das schmale, weiße, wunderschöne Gesicht wandte sich wieder zu Maus. Und plötzlich veränderte sich etwas darin. Aus Gleichmut wurde überraschtes Interesse.
    Mit einer eleganten Bewegung beugte sie sich vor und brachte ihr Gesicht ganz nah an Maus heran. »Ist das möglich?«, murmelte sie tonlos.
    »Was meinen Sie, Madame?« Maus bog Kopf und Schultern ganz leicht nach hinten, wich aber noch immer nicht zurück. Roch die Frau etwa an ihr?
    Da zog sich die Fremde mit einem Ruck wieder zurück.
    »Nun ja, dann wird die Brosche, die wir gefunden haben, wohl deine sein.« Sie machte einen halben Schritt zur Seite. »Tritt ein.«
    »Ich bleibe auch gern vor der Tür stehen.«
    Ein ungeduldiges Funkeln flitterte durch die blauen Augen. »Komm rein, hab ich gesagt.« Es war ein Befehl, aber so, wie sie ihn betonte, klang er dennoch wie eine höfliche Bitte.
    Maus trat an der Frau vorbei in die Suite. Der fensterlose Vorraum allein maß mehr als das Dreifache ihrer Schuhkammer im Keller. Zwei Türen gingen davon ab. Die eine, die zum Bad führte, war geschlossen; die andere stand weit offen und gewährte den Blick in das riesige Schlafzimmer. Draußen war es längst dunkel geworden, aber in dem Raum mit dem riesigen Himmelbett herrschte ein seltsames Silberlicht, so als stünde der Vollmond direkt vor der breiten Fensterfront. Dabei schneite es draußen noch immer, der Himmel musste voller Wolken sein.
    Maus blieb unweit des Eingangs stehen. Die Mundwinkel der Frau verzogen sich zu einem Lächeln, aber ihre Augen lächelten nicht. Sie schloss hinter Maus die Tür. »Das Schmuckstück, das du suchst, liegt im Schlafzimmer.«
    Erst jetzt wurde Maus wieder der Kälte gewahr. Merkten die beiden denn nicht, wie frostig es hier war? Maus sah, wie ihr Atem zu Schwaden wurde, genau wie der des Jungen. Nur vor dem Gesicht der Frau zeigte sich kein noch so blasses Atemwölkchen.
    Ich hätte nicht herkommen dürfen, dachte sie nervös. Was bedeutet mir schon die eine blöde Brosche? Aber nun war sie einmal hier, und es gab kein Zurück.
    Mit einem gemurmelten Dank ging sie den beiden voraus ins Schlafzimmer. Die Wand zu ihrer Linken bestand nur aus Fenstern, draußen erstreckte sich eine weitläufige Dachterrasse. Hinter dem Glas fielen schwere, nasse Flocken. Nirgends war der Mond zu sehen. Doch noch ehe Maus nach der Quelle des Silberlichts im Raum suchen konnte, schaltete die Frau neben der Tür die Beleuchtung ein. An der hohen Decke flammten rund um einen Kronleuchter schlanke Birnen auf. Das Himmelbett, Kommoden, Sessel und Gemälde in schweren Rahmen wurden von elektrischem Licht überflutet. Der Silberglanz war schlagartig fortgeblasen wie Feenstaub.
    Die Frau erschien ihr jetzt weniger überirdisch, auch wenn ihre Schönheit von dem gelblichen Schein unangetastet blieb. Aber sie wirkte älter, mindestens zehn Jahre. Und ihr silbrig weißes Haar hatte an Glanz verloren, war matter, beinahe grau. Auch die Kleidung des Jungen, der zappelig im Rahmen der

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