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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Schlafzimmertür stand, schien noch schäbiger als zuvor. Maus fand, dass er verängstigt aussah.
    »Ich möchte Sie wirklich nicht stören«, sagte sie, und ihre Stimme klang jetzt so piepsig, dass sie ihrem Namen alle Ehre machte.
    Die Frau beugte sich zu dem Jungen hinab und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Seine großen dunklen Augen wurden noch ein wenig weiter. Maus lief es eisig über den Rücken, aber das spürte sie kaum in der Kälte des Zimmers. Eher hatte sie das Gefühl, als legte sich der Frost um ihre Glieder und Gelenke. Als begänne sie selbst, allmählich einzufrieren.
    Der Junge rührte sich nicht, nur sein Blick wanderte zu Maus. Die Frau stieß ein einziges Wort aus, und zum ersten Mal klang sie dabei gereizt. Maus verstand nicht, was sie gesagt hatte.
    »Ich kann gern wieder gehen«, murmelte sie kleinlaut. »Wirklich, das macht gar nichts.«
    »Du bleibst«, befahl die Frau.
    Der Junge wandte sich nach einem letzten Zögern ab und eilte durchs Vorzimmer hinaus auf den Korridor. Die Eingangstür der Suite zog er hinter sich zu.
    Die Frau legte eine Hand auf die Klinke der Schlafzimmertür. Die Kristalle am Kronleuchter klirrten leise, als Maus der einzige Fluchtweg versperrt wurde.
    »Was wollen Sie von mir?« Das Sprechen fiel ihr mit einem Mal schwer. Vielleicht gefroren ihre Stimmbänder. Oder ihre Kiefer gehorchten ihr nicht mehr. Die Kälte war allgegenwärtig, ergriff Besitz von ihr, und doch fühlte sie sich ganz anders an als der Frost der Außenwelt. Maus hatte nicht das Gefühl zu erfrieren. Was diese Kälte bewirkte, war viel eher eine Lähmung.
    »Du bist eine Diebin, mein Kind.« Die Frau ging mit langsamen Schritten quer durch den Raum, bis sie am Fenster stand. Unterwegs passierte sie ein paar mannshohe Überseekoffer und Reisekisten, dann eine Stellwand aus Stoff, die eine Ecke des Schlafzimmers abteilte. Davor standen mehrere Paar schlichter Lederschuhe, alle identisch, alle gleichermaßen verschlissen; eigentlich waren es nur noch Sohlen, an deren Rändern Lederfetzen hingen. Über dem Rand der Stellwand lagen zerknüllte Kleidungsstücke, schlichte Hemden und Hosen, wie sie der stumme Junge getragen hatte; sie alle waren alt und löchrig und vermodert. Maus verstand nicht, wie all das zu dem Prunk der Suite und dem majestätischen Äußeren der Frau passte.
    »Diebe müssen bestraft werden«, fuhr die Frau fort und brachte ihr Gesicht ganz nah an das Glas der Fensterfront. Eigentlich hätte es jetzt von ihrem Atem beschlagen müssen, doch davon war nichts zu sehen.
    »Diebe sind nicht gut für die öffentliche Ordnung. Und die Ordnung muss gewahrt bleiben, hier wie anderswo.«
    Öffentliche Ordnung? Was redete sie da? Maus fiel allmählich das Denken schwer, als ob selbst ihr Verstand gefror, vollkommen schmerzlos, aber unausweichlich.
    Der Blick der Frau blieb hinaus in die Nacht gerichtet, in den dichten, unablässigen Schneefall, der die Terrasse immer tiefer unter sich begrub. Oder betrachtete sie ihr eigenes Spiegelbild in der Scheibe? Bemerkte sie, dass sie älter wirkte als vorhin, weniger imposant?
    »Sag mir, bist du kürzlich jemandem begegnet, den du vorher noch nie hier im Hotel gesehen hast?«
    Maus hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Auf die Worte der Fremden, auf ihre eigene Lage. Auf irgendetwas.
    »Nun?«, fragte die Frau, jetzt voller Ungeduld. Sie drehte sich um und durchbohrte Maus mit ihrem Blick.
    »Das … das hier ist ein Hotel, Madame. Viele Leute kommen und gehen …«
    »Ich meine jemand Bestimmten. Eine Frau. Sie trägt gern bunte Kleidung. Ihr Haar ist blau.«
    Maus war es, als gäbe es so jemanden in ihrer Erinnerung, aber sie brauchte lange, ehe sie begriff, wen die Fremde meinte. »Nein«, sagte sie trotzdem.
    »Du lügst.«
    Das schien ihr mittlerweile jedermann zu unterstellen, deshalb war sie nicht beleidigt. Die meisten hatten ja Recht damit.
    »Ich weiß nicht, wen Sie meinen.«
    Die Frau machte zwei ungeheuer schnelle Schritte auf sie zu. Maus hatte jetzt das Gefühl, als käme die Kälte unter ihrem Kleid hervor, als flösse die eisige Luft von ihr herab wie Schmelzwasser von einem Schneemann.
    »Gib dir Mühe! Ein lächerlicher bunter Schal. Ein abgegriffener Koffer aus Leder. Ein schreiend hässlicher Regenschirm. Und ein zerbeulter Zylinder aus Filz.«
    »Ich kann mich nicht erinnern.« Immerhin war das zur Abwechslung mal die Wahrheit. Die Gestalt, die sie vor dem Hotel aufgelesen und zum Eingang getragen hatte, mochte all das bei sich

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