Frostfeuer
anerkennenden Pfiff aus und folgte Maus in die Kammer jenseits des brüchigen Mauer-Spalts. Hinter sich ließ sie das leere Fass wieder in seine Ausgangsposition rollen. Die Gewölbe des Weinkellers versanken in Dunkelheit, während der Zauberschein des Regenschirms das Balkengewirr im vorderen Teil des Verstecks zum Leben erweckte: Schatten schoben sich über- und untereinander, Lichtsplitter verzerrten und verzogen das Bild. Dann blieben auch die Balken zurück. Maus und Tamsin betraten die Kammer des Eisensterns.
»Es ist nicht besonders groß«, sagte Maus, »aber ich hab versucht, es so gemütlich wie möglich zu machen. Und frag bitte nicht, woher all die Sachen kommen.« Sie strich mit der Hand an den roten Samtvorhängen vor den Felswänden entlang, ihr Blick wanderte über das Sammelsurium voll gestopfter Hutschachteln. Zum ersten Mal zeigte sie einem anderen Menschen diesen Raum, und sie hatte das merkwürdige Gefühl, ihn durch Tamsins Augen zu betrachten. Plötzlich war ihr all der gestohlene Krimskrams ein wenig peinlich. »Das meiste ist wertlos, wirklich. Ich hab nie irgendwem geschadet, nur weil ich –«
Sie brach ab, als sie bemerkte, dass Tamsin ihr gar nicht zuhörte. Die Magierin hatte nur Augen für einen einzigen Gegenstand: Fasziniert ging sie vor dem Eisenstern in die Hocke und berührte mit den Fingerspitzen die abgerundeten Metallstacheln auf seiner Oberfläche.
»Komisches Ding, was?«, fragte Maus leichthin. Insgeheim ärgerte es sie, dass Tamsin so gar keine Wertschätzung für den Rest ihrer Sammlung zeigte.
Der Blick der Magierin glitt gebannt, beinahe liebevoll über die Kugelform des Eisensterns. Zum ersten Mal, seit sie den Keller betreten hatten, ging ihr Atem ein wenig schneller. Maus konnte es deutlich an den Dunstwölkchen vor ihren Lippen sehen. Noch nicht einmal vorhin, als sie fast entdeckt worden wären, war Tamsin so aufgeregt gewesen.
»Woher stammt das?«, fragte sie, ohne Maus anzusehen.
»Er lag schon hier, als ich den Raum gefunden habe.«
Tamsin umrundete den Eisenstern. Maus musste bis unter das Ölporträt an der Stirnwand zurückweichen, um Platz zu machen. Mit den Fingern tastete die Magierin über das grün angelaufene Metall zwischen den Eisendornen, so als suche sie nach etwas.
»Faszinierend.«
»Na ja, nicht schlecht, aber schau mal, was ich hier noch habe!« Maus fingerte triumphierend den Deckel von einer Hutschachtel und hielt die Öffnung in Tamsins Richtung. Darin befanden sich Münzen aus fremden Ländern mit exotischen Emblemen. Doch Tamsin sah gar nicht hin, so als hätten Maus und der Rest des Raumes sich in Luft aufgelöst. Enttäuscht stellte Maus die Schachtel beiseite. »Oder das hier!« Sie zog ein Buch unter vielen anderen hervor, brachte den Turm dabei fast zum Einsturz und zeigte Tamsin den Einband. »Märchen«, sagte sie. »Und Gedichte. Aus England!«
»Ja, schön«, sagte die Magierin, ohne einen Blick auf den Band zu werfen.
Maus blätterte fahrig darin, so als sei sie es dem Buch schuldig, dass wenigstens eine von ihnen hineinschaute. Dann legte sie es rasch beiseite.
»Was ist damit?« Sie deutete widerstrebend auf den Eisenstein. Es gefiel ihr nicht, dass Tamsin nur noch ihm Beachtung schenkte. Maus war sehr stolz auf die Einrichtung der Kammer; es hatte sehr viel Mühe gekostet, all diese Sachen herbeizuschaffen. Und nun sollte das einzige Ding von Bedeutung ausgerechnet die große Eisenkugel sein, die schon immer hier gelegen hatte?
Sie war enttäuscht über Tamsins Desinteresse. Und auch ein wenig traurig.
»Maus«, sagte Tamsin mit bebender Stimme, als sie endlich wieder aufblickte, »weißt du überhaupt, was das hier ist?«
»Irgendein … Ding.« Noch vor kurzem hätte Maus eine Menge für die Antwort auf Tamsins Frage gegeben. Nun aber erschien ihr der Eisenstern viel unwichtiger als früher – so viel anderes hatte plötzlich an Bedeutung gewonnen. Die Schneekönigin und der stumme Rentierjunge. Ihre Freundschaft zu Tamsin. Sie hatte sogar das Hotel verlassen!
»Ein Ding?«, wiederholte Tamsin. »Ja, so kann man es wohl nennen.«
»Sag schon, was ist es?«
»Verrat mir erst, wo genau wir hier sind.«
»In einem Tunnel hinter dem Weinkeller.«
»Ja, sicher. Aber wo führt er hin?« Tamsins Blick tastete über die Stirnseite mit dem Gemälde des unbekannten Adeligen. »Dahinter ist nichts mehr, oder?«
Maus schüttelte den Kopf. »Nur Lehm und Erdreich. Der Tunnel ist hier zu Ende. Vielleicht ist
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