Frostfeuer
»Was soll das, Maus?«, fragte sie sanft. »Du glaubst doch nicht wirklich, dass du mich aufhalten kannst.«
Maus blieb stehen. Ihr Blick flackerte von Tamsin zum Durchgang und wieder zurück. Irgendetwas musste sie tun. Musste es wenigstens versuchen. Für sich, für Erlen, sogar für das Hotel, das zugleich ihr Gefängnis und die ganze Welt war.
Nein, sagte sie sich, du warst draußen. Du kannst es.
»Du musst dir die Schnur schon holen, wenn du sie haben willst«, keuchte sie und machte einen Satz auf den Spalt zu.
Tamsin stieß einen Seufzer aus. »An deiner Stelle hätte ich das wohl auch versucht.«
Maus wollte sich zwischen die Mauerkanten zwängen, aber Tamsin war schneller. Innerhalb eines Herzschlags war sie heran und bekam von hinten Maus’ Schulter zu packen. Ihr Griff war fest, aber nicht schmerzhaft. Sie wollte Maus nicht wehtun.
»Bitte«, sagte sie, »gib sie mir freiwillig zurück.«
Maus strampelte. Vor Kummer und Wut sah sie Tamsin und die Umgebung nur noch verschwommen. »Das kann ich nicht.« Und schon steckte sie sich das Ende der Schnur in den Mund, stopfte sie, so schnell sie nur konnte, zwischen ihre Lippen, nicht ganz sicher, was sie da eigentlich tat und was es bewirken würde.
Tamsin stöhnte und machte eine Bewegung mit der linken Hand, die die Zündschnur in Maus’ Mund und Fingern zum Leben erwachen ließ. Wie ein quirliger Regenwurm krümmte und wand sich der graue Faden, bis er Maus’ Griff entglitt, aus ihrer Mundhöhle flutschte und mit einem Sprung zurück zu seiner Besitzerin federte. Tamsin bekam das Knäuel zu packen und machte einen Schritt nach hinten.
Maus fluchte und blinzelte Tränen aus ihren Augen.
»Ich nehme dir das nicht übel«, sagte Tamsin. »Das war sehr tapfer und gut gemeint. Aber ich kann es nicht zulassen.« Sie entrollte die Schnur zwischen den Händen und betrachtete sie kritisch; der Teil, der sich bereits in Maus’ Mund befunden hatte, war zerknittert und feucht.
»Das ist nicht gut«, sagte sie seufzend, riss das unbrauchbare Stück ab und schob den Rest – ungefähr die Hälfte – zurück in ihre Manteltasche.
Maus stand schwer atmend am Spalt, nicht sicher, was sie als Nächstes tun, was sie sagen sollte. Sie hatte keine Angst vor Tamsin – nicht wie vor der Schneekönigin –, obgleich ihre Vernunft ihr sagte, dass ein wenig Furcht durchaus angebracht wäre. Stattdessen machte ihr diese bodenlose Enttäuschung zu schaffen, das Entsetzen über Tamsins furchtbare Wandlung. Sie hätte die Magierin am liebsten geschüttelt und geohrfeigt und danach in die Arme genommen und gehofft, dass alles wieder gut, alles wieder wie vor einer Stunde wäre.
Tamsin ging wortlos zum Eisenstern. Dort ergriff sie den regenbogenbunten Regenschirm und kam damit zurück zu Maus. »Hier«, sagte sie ruhig, »nimm ihn mit. Ich brauche ihn nicht mehr. Wenn die Königin versucht, dir etwas anzutun, wird er dir helfen.«
»Du … brauchst ihn nicht mehr?«
Tamsin lächelte traurig. »Die Zündschnur ist jetzt nicht mehr lang genug. Ich werde nicht rechtzeitig hier rauskommen, wenn sie erst einmal brennt.«
»Oh nein!« Maus hob abwehrend beide Hände. »Das kannst du nicht tun! Ich lass mir von dir nicht einreden, dass ich die Schuld daran habe, dass du –«
»Sie war auch schon vorher zu kurz«, wiegelte Tamsin ab. »Mein Fehler. Ich hätte eine neue einstecken sollen. Pech gehabt.«
»Du willst sterben, nur damit die Königin …« Maus schüttelte fassungslos den Kopf. Trotz allem, was Tamsin vorhatte, mochte Maus sie noch immer, dagegen konnte sie sich einfach nicht wehren. Durch das, was Tamsin tun wollte, kamen neue Gefühle hinzu – Unverständnis und ganz fürchterlicher Zorn –, aber es änderte wenig an den alten.
»Du musst jetzt wirklich gehen.« Tamsin trat beiseite und gewährte ihr einen Blick auf die brennende Kerze. Sie war höher geworden. Immer neue Wachstropfen flossen aufwärts in Richtung Flamme. »Hier«, sagte sie und hielt Maus den Regenschirm hin. Seine Spitze glühte noch immer.
Maus nahm ihn mit zitternder Hand entgegen. »Was soll ich damit?«
»Falls sie irgendeinen Zauber versucht, dann halte das Ende des Schirms in ihre Richtung. Aber Vorsicht, du darfst ihn nicht öffnen! Leichte Magie müsste von ihm abprallen.«
»Und schwere?«
»Wird dich und den Schirm … nun, wir wollen mal nicht gleich den Teufel an die Wand malen.« Tamsin warf ihr eine Kusshand zu, aber der Geste fehlte nun alles Spielerische. »Geh jetzt!
Weitere Kostenlose Bücher