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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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glaubte sie, über den Lärm hinweg ihren Namen zu hören, dann brach sie aus der Rückseite des Pulks und stürmte zum nahen Haupttreppenhaus. Dort vernahm sie schon nach wenigen Stufen die befehlsgewohnten Stimmen von Polizisten, die ihr von oben entgegenschallten. Auf diesem Weg würde sie ihnen geradewegs in die Arme laufen.
    Hastig machte sie kehrt, nahm ein paar Stufen im Laufschritt und folgte dem Korridor tiefer ins Gebäude hinein, fort von der Eingangshalle und dem brüllenden Lärm, der auch hier noch zu ihr herüberdröhnte. Zwei Ecken weiter kehrte ein wenig Ruhe ein, und die Stimmen verschwammen in der Ferne zu dumpfem Grummeln. Niemand war zu sehen.
    Maus ließ sich für einen Moment gegen die Wand sinken, verschnaufte und ordnete ihre Gedanken, soweit das eben möglich war; dann erst rannte sie weiter.
    Wenig später erreichte sie die übertapezierte Tür zum bodenlosen Treppenhaus, zerrte sie auf und schlüpfte hindurch. Als der Flügel hinter ihr zufiel, war das fast so, als hätte sie auch die Erinnerung an Kukuschka und die Geheimpolizisten wie einen Faden abgeschnitten. Allmählich konnte sie sich wieder auf das konzentrieren, was vor ihr lag.
    Erlen. Die Schneekönigin.
    Keuchend begann sie den Aufstieg. Sie hatte zu viel Zeit verloren. Hatte Tamsin schon die Schnur entzündet? Vielleicht hätte sie doch einem der Polizisten die Wahrheit erzählen sollen. Die Männer hätten gewusst, was zu tun war.
    Sie hatte mehr als die Hälfte des Treppenhauses erklommen, als über ihr im vierten Stock eine Tür zuschlug. Etwas klirrte. Vielleicht ein Schlüsselbund. Ehe sie noch ein Versteck suchen konnte – und es gab ohnehin nirgends Nischen in den gerundeten Wänden, keine Ausgänge –, kam ihr jemand entgegen. Sie erkannte ihn an den Schritten. Erst sah sie von unten nur eine grobknochige Hand auf dem Geländer, dann erschien er vor ihr in seiner ungeheuerlichen Größe.
    Sie schloss für einen Herzschlag die Augen, blieb stehen, sah wieder hin.
    Der Rundenmann verzog keine Miene. »Hab die anderen Stockwerke gesichert. Kein Mensch mehr da oben. Aber ich hätte mir denken können, dass du nicht tust, was man dir sagt.«
    Ihr fiel keine List ein, kein Trick, mit dem sie ihm jetzt noch entkommen konnte.
    »Bitte«, sagte sie eindringlich, »lassen Sie mich gehen.«
    Er baute sich zwei Stufen über ihr auf, die Hände in die Seiten gestemmt. In der Rechten hielt er einen Ring mit angelaufenen Schlüsseln; er schien dabei zu sein, die Türen zum Treppenhaus zu versperren. Er sah von so hoch oben auf sie herab, dass sie ihren Kopf kaum weit genug in den Nacken bekam, um seinen Blick zu erwidern. Ihr fiel auf, dass seine Uniform nass war, so als wäre Schnee darauf geschmolzen. Auch um seine riesigen Schuhe, die sie unter tausend anderen wiedererkannt hätte, bildeten sich leichte Pfützen.
    Es war vorbei, daran zweifelte sie jetzt nicht mehr. Er würde sie einfach packen und mit sich zum Ausgang schleppen.
    »Bitte«, sagte sie noch einmal.
    »Alle Gänge leer, alle Zimmer verlassen«, knurrte er. »Besser kann es für eine kleine Diebin wie dich gar nicht laufen, was?«
    Kein Wunder, dass dem Rundenmann dieser Gedanke kam. Sie hätte längst dieselbe Idee gehabt, wäre da nicht genug anderes gewesen, womit sie sich herumschlagen musste.
    »Ich will nichts stehlen. Wirklich nicht.« Sie hörte ihre Stimme, als sei es eine fremde, und dachte, dass niemand, der gesunden Menschenverstand besaß, ihr glauben würde. Schon gar nicht der Rundenmann.
    »Sag mir die Wahrheit«, verlangte er. »Hast du die Gäste hier im Hotel bestohlen?«
    Sie senkte den Kopf in Erwartung seiner Pranken, die jeden Augenblick zugreifen und sie durchschütteln würden. »Ja«, sagte sie leise. »Hab ich.«
    Er schwieg.
    »Aber nicht heute!«, fügte sie hinzu, als sich wieder Trotz in ihr regte.
    Er deutete auf den Regenschirm in ihrer Hand. »Der gehört der Engländerin.«
    »Sie hat ihn mir« – oh verdammt! – »geschenkt.«
    »Geschenkt.« Er klopfte sich Nässe von seinen Uniformärmeln. »So, so.«
    »Ja, ich weiß, Sie glauben mir nicht«, plapperte sie los. »Und ich würde mir ja auch nicht glauben. Also, wenn ich Sie wäre, meine ich. Aber diesmal, nur dieses eine Mal, müssen Sie es tun – mir glauben. Ich lüge nicht. Und ich muss unbedingt hoch in den fünften Stock. Sonst … sonst wird ein …« – sie zögerte, suchte nach dem richtigen Wort – »… ein Unglück geschehen. Ein ganz schreckliches.«
    »Ein

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