Frostfeuer
Du musst dich beeilen!«
»Und der Zar?«
Tamsin runzelte die Stirn. »Was ist mit ihm?«
»Sag nicht, du hast vergessen, dass er heute Morgen mit seinem ganzen Tross über den Newski Prospekt reiten wird! Er hat bestimmt seine Familie dabei. Wenn du die Bombe zündest …«
Tamsin ächzte leise. »Ist er denn so viel besser als die Königin? Denk nur mal an das Gefängnis der Stille.«
Maus erinnerte sich, dass sie selbst einmal etwas Ähnliches zu Kukuschka gesagt hatte: Dann haben die Nihilisten vielleicht Recht. Es war einfach gewesen, so etwas leichtfertig daherzureden.
»Du kannst das nicht tun!«, versuchte sie es ein letztes Mal. »Es ist … es ist einfach nicht richtig, egal wer er ist. Er hat viele Menschen bei sich. Seine Frau, seine Kinder … all die Soldaten. Das kannst du nicht wirklich wollen!«
Tamsins Gesichtszüge waren bleich geworden, aber sie hatte ihre Entscheidung getroffen. »Das muss ich jetzt allein mit meinem Gewissen ausmachen. Nun geh schon! Verschwinde!« Sie wollte sich abwenden, sagte dann aber noch: »Und, Maus, versuch nicht, der Geheimpolizei Bescheid zu geben. Ehe sie mich hier herausholen könnten, hätte ich die Bombe schon gezündet.«
Maus dachte, sie müsste noch etwas sagen, etwas Wütendes, Verzweifeltes zum Abschied. Aber dann fuhr sie doch nur schweigend herum, schob sich durch den Spalt und folgte dem Zauberglanz des Regenschirms durch die Finsternis zum Ausgang.
Das Kapitel über Freunde und Feinde im Angesicht des Sturms
Maus rannte. Ihr Atem rasselte und ächzte wie die riesigen Kessel in der Hotelküche. Die Angst lag wie ein Stein in ihrem Magen. Um weiteren Patrouillen auszuweichen, musste sie einen Umweg nehmen, der sie im Kreis zurück zum Weinkeller führte – so viel verschenkte Zeit! Sie hatte die Tür gerade passiert, als hinter der nächsten Ecke jemand auftauchte, zu plötzlich, um noch in Deckung zu gehen.
»Maus!«
»Kukuschka?« Ihre Kehle war wie zugeschnürt. »Was tust du denn hier unten?«
»Ich hab dich überall gesucht. Ich dachte mir schon, dass du nicht –«
»Keine Zeit!«, fuhr sie ihn an. »Geh mit den anderen nach draußen, Kuku.«
Er hob schmunzelnd eine Augenbraue. »Ist unsere Maus etwa in geheimer Mission unterwegs? So scheint’s mir ja fast … Woher hast du denn den Regenschirm?«
Sie folgte seinem Blick und sah erleichtert, dass die Spitze des Schirms nicht mehr glühte. »Wirklich, Kuku! Lass mich durch. Wir reden später. Und, bitte, verlass das Hotel. Versprichst du mir das?«
Ein Schatten huschte über seine Miene. »Was ist los?«
»Nichts. Jedenfalls nichts, an dem du etwas ändern könntest.«
»Wenn es wegen Maxim ist …«
Sie schüttelte barsch den Kopf. Maxim war so weit weg wie der Mond. Es war, als gehörten der Liftjunge und seine Boshaftigkeit zu einem anderen Leben. »Er hat nichts damit zu tun.«
Kukuschka streckte den Arm aus und wollte sie festhalten, doch sie wich flink aus und sprang an ihm vorbei. »Warte nicht auf mich! Verschwinde von hier, und nimm so viele mit, wie du kannst. Auch die Polizisten.«
Mit diesen Worten ließ sie ihn stehen, hörte ihn noch hinter sich ihren Namen brüllen, auch seine Schritte auf dem feuchten Kellerboden, aber im Halbdunkel hängte sie ihn ab. Ihre rechte Hand krallte sich fest um Tamsins Regenschirm; sie konnte die Streben unter dem Stoff fühlen wie Knochen unter Vogelgefieder.
Sie erreichte das Treppenhaus, völlig außer Atem, raste die Stufen hinauf – und stolperte auf der letzten. Mit einem Aufschrei fiel sie nach vorn und konnte sich gerade noch an der Türklinke zum Korridor festhalten. Noch während sie wieder auf die Beine kam, war Kukuschka mit einem Mal hinter ihr und packte sie. Sein Gesicht war jetzt sehr ernst, sein Tonfall verärgert.
»Verdammt, Maus, was soll das alles?«
»Ich kann dir das nicht erklären.«
»Bist du wieder im Weinkeller gewesen? Glaubst du, ich weiß nicht, dass du dich dort versteckst, wenn dich keiner finden soll?« Seine Stimme wurde eine Spur sanfter, fast wieder der alte Kukuschka. »Du willst das Hotel nicht verlassen, hmm? Wenn du möchtest, gehen wir beide zurück in den Weinkeller und warten, bis alles vorbei ist. Was hältst du davon?«
Aus seinem Mund war das ein seltsamer Vorschlag, fand sie. Wusste er von dem Tunnel? Vom Eisenstern? Wohl kaum. Aber sie durfte nicht zulassen, dass er dort unten herumschnüffelte. Sie malte sich aus, was geschehen würde, wenn Tamsin seine Schritte vor dem
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