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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Mauerspalt hörte: Sie würde annehmen, Maus hätte die Geheimpolizei informiert, und dann würde sie … Nein, Kukuschka durfte nicht dorthin gehen.
    Und dann kam ihr noch ein Gedanke, einer, der so sehr schmerzte, dass sie unter Kukuschkas Berührung zusammenzuckte: Was, wenn er zu den Nihilisten gehörte? Hatten außer Nikolai Iwanowitsch vielleicht noch andere Revolutionäre gewusst, was ihre Mutter im Hotel geplant hatte? Womöglich kannten sie ja den Plan, aber nicht das genaue Versteck der Bombe! Vielleicht hatte Kukuschka seine Stelle als Lehrer gar nicht verloren, sondern hatte in Wahrheit ganz andere Gründe gehabt, den Tänzerposten hier im Hotel anzunehmen.
    All das ging ihr innerhalb eines Sekundenbruchteils durch den Kopf. Es war ein Gedanke, der all die Jahre über fix und fertig in ihr gewesen war, so als hätte er nur auf einen Augenblick wie diesen gewartet. Einen Zeitpunkt noch dazu, an dem sie solche Zweifel am allerwenigsten gebrauchen konnte.
    Nein, dachte sie. Du bist durcheinander. Das ist alles zu viel für dich. Und jetzt schnappst du völlig über. Kukuschka ist ein Freund!
    Ja, flüsterte es tief in ihr, genau wie Tamsin.
    Mit erzwungener Ruhe schob sie seine Hand von ihrer Schulter. »Gehen wir mit den anderen nach draußen«, sagte sie fest.
    »Bist du sicher?«
    Sie senkte die Augen und nickte.
     
    *
     
    Die Eingangshalle war noch immer voller Menschen. Die Zeiger der großen Pendeluhr an der Wand standen auf kurz vor acht. Der Concierge, ein grauhaariger Mann mit steilen Augenbrauen, die sich niemals zu senken schienen, stand an dem großen Gong und schlug in regelmäßigen Abständen gegen die goldene Scheibe. Der dröhnende Laut vibrierte durch die Halle und übertönte für Sekunden jedes andere Geräusch.
    Die Polizisten in Zivil waren durch Uniformierte verstärkt worden. Auch Hotelpersonal wurde zur Räumung eingesetzt; Maus sah mehrere Pagen und Liftjungen, die von Polizisten Befehle erhielten. Vor allem ausländische Gäste hatten versucht, die Anordnungen zu ignorieren und in ihren Zimmern abzuwarten, bis alles vorüber war. Immer noch wurden Trauben aus Männern und Frauen aus dem Lift und dem großen Treppenhaus getrieben. Vor der Drehtür staute sich der Menschenstrom. Über allem lag ein Klangteppich aus Befehlen und empörten Protesten.
    Kukuschka hatte Maus an der Hand genommen, während sie sich in den chaotischen Pulk einreihten. Sie hatte das Gefühl, dass er sie nicht aus den Augen ließ, auch wenn er sie nie offen anstarrte.
    »Es ist zu kalt draußen«, sagte er. »Wo ist dein Mantel?«
    »Im Keller.«
    »Wir hätten ihn holen sollen.«
    »Sie werden uns schon nicht erfrieren lassen, oder?«
    Sie gab sich verunsichert, damit er nicht bemerkte, dass sie insgeheim über etwas ganz anderes nachdachte. Sie musste irgendwie von ihm fortkommen. Ihm keine Zeit geben, sie wieder einzuholen.
    Genau unter ihren Füßen, ein Stockwerk tiefer, brannte eine einzelne Kerze. Sie brannte von unten nach oben. Maus blieb immer weniger Zeit. Wie lange noch? Zehn Minuten? Zwanzig?
    Würde Tamsin tatsächlich in Kauf nehmen, dass sie durch die Explosion umkam? Und all die anderen Menschen? Sie konnten ihr doch nicht gleichgültig sein. Aber letztlich, was wusste Maus denn schon über Tamsin und ihre seltsame Familie?
    Weiter vorne am Ausgang entstand noch größerer Tumult, als die Polizisten zu viele Menschen auf einmal in die Drehtür schoben und der Arm eines Uniformierten zwischen Flügel und Rahmen eingeklemmt wurde. Er begann entsetzlich zu schreien, und sofort strömten von allen Seiten Polizisten Richtung Ausgang, ohne auf Anhieb die Ursache des Aufruhrs zu erkennen. Einer zog seinen Revolver, weil er fürchtete, es sei zu Handgreiflichkeiten gekommen, worauf einige der Frauen zu kreischen begannen; eine Italienerin fiel gar in Ohnmacht, als er an ihr vorbeilief.
    Kukuschka stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Köpfe der Menschen zu schauen. Ganz kurz war er abgelenkt.
    »Viel Glück, Kuku«, sagte Maus leise, riss im selben Moment ihre Hand los und zwängte sich durch die Masse Richtung Rezeption. Kukuschka rief ihren Namen, stemmte sich gegen die Strömung, versuchte, sich eine Gasse zu bahnen, doch es hatte keinen Zweck. Maus, viel kleiner und schmaler als er, glitt flink zwischen den Beinen der Menschen hindurch, erreichte die Rezeption, wich dem finsteren Blick des Concierge aus und bewegte sich in einem Bogen wieder zum hinteren Ende der Halle.
    Einmal noch

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