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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Dort horchte sie in die Tiefe, hörte weit entfernt die Stimmen von Polizisten, drehte sich um und hastete die Stufen hinauf zum fünften Stock.
Das Kapitel, in dem Maus die Seiten wechselt
    Die Tür der Suite war nicht verschlossen. An der Klinke hing ein Eiszapfen. Maus drückte sie langsam hinunter. Ihre Hand schwitzte, und sie erwartete jeden Augenblick, dass die Tür von innen aufgerissen und sie selbst ins Vorzimmer gezerrt werden würde. Doch nichts dergleichen geschah. Sie hatte nicht angeklopft. Natürlich nicht. Sie hoffte, dass die Königin noch immer angeschlagen im Schlafzimmer lag. Einen konkreten Plan hatte sie nicht, nur die vage Hoffnung, dass sie Erlen aus der Suite schleusen konnte, bevor die Königin es bemerkte. Wie das vor sich gehen sollte? Sie hatte nicht die geringste Vorstellung. Aber für ausgeklügelte Strategien war ohnehin keine Zeit.
    Wenn sie die Augen schloss, ganz kurz nur, glaubte sie, hinter ihren Lidern ein Licht zu sehen wie von einer Wunderkerze, hell und Funken sprühend: das Ende der Lunte, an dem sich die Flamme unaufhaltsam dem Eisenstern entgegenfraß.
    Ganz, ganz langsam drückte sie den Türflügel nach innen. Als sie die Hand von der Klinke nehmen wollte, waren ihre Finger festgefroren. Vorher war ihr nicht aufgefallen, dass es noch viel kälter geworden war, doch jetzt realisierte sie schlagartig, wie eisig das Metall war. Mit einem Ruck löste sie ihre Hand, erstickte einen leisen Schmerzenslaut und stieß die Tür behutsam auf, gerade weit genug, um einen Blick ins Innere werfen zu können.
    Das Vorzimmer war verlassen. Jedenfalls soweit sie das von hier aus erkennen konnte. Falls jemand hinter der Tür stand … nun, das Risiko würde sie eingehen müssen.
    Rasch schlüpfte sie durch den Spalt und zog die Tür hinter sich wieder zu. Nur das Schloss ließ sie nicht einschnappen.
    Die Atemwölkchen vor ihrem Gesicht waren dichter als sonst und kamen schnell und stoßweise über ihre brüchigen Lippen. Ein-, zweimal musste sie blinzeln, um einen eisigen Schleier vor ihren Augen zu zerreißen.
    Die Tür zum Schlafzimmer war angelehnt. Kein Laut war zu hören. Sicherheitshalber warf Maus einen Blick zur Badezimmertür. Sie war geschlossen, auch von dort drang kein Laut herüber. Kein Rascheln, kein Wasserrauschen.
    Vorsichtig wendete Maus ihren Kopf und konzentrierte sich auf den Durchgang zum Schlafzimmer. Auf Zehenspitzen schlich sie darauf zu. Sie streckte die rechte Hand aus, legte sie an das Holz des Türflügels, atmete einmal tief durch.
    Gott, war das kalt! Die frostige Luft schien ihren Kehlkopf zu betäuben. In der Lunge fühlte sie sich an wie geraspeltes Glas.
    Zaghaft verstärkte Maus den Druck auf das Holz. Die Tür schwang auf, unendlich langsam. Sie trat einen Schritt zurück und sah zu, wie der Spalt breiter und breiter wurde. Immer mehr wurde vom Inneren des Schlafzimmers sichtbar: Teppiche, Wände, ein Tisch und Stühle. Reisekisten und Schrankkoffer. Die drei Spiegel und das Rentierfell in der Ecke. Die Stellwand, über der eine weitere, halb zerfallene Garnitur von Erlens Kleidung hing, die sich aus rätselhaften Gründen nicht mit dem Zauber vertrug, der seinen Körper in den eines Menschen verwandelt hatte.
    Dann das leere Himmelbett.
    Schneetreiben wirbelte durch die geöffnete Terrassentür herein. Waren die Schneekönigin und der Rentierjunge dort draußen? Die Flocken fielen noch immer genauso dicht wie in der letzten Nacht, auch wenn hinter den dunklen Winterwolken allmählich die Sonne aufging. Seltsamerweise wurde es dadurch nicht heller, nur grauer. Das Licht im Zimmer hatte die Farbe alter Knochen, ausgeblichen und vergilbt.
    Maus blickte über die Schulter – niemand zu sehen! –, dann betrat sie das Schlafzimmer. Etwas knirschte unter ihren Füßen. Irgendwer hatte Schneereste von außen hereingetragen: Eisränder waren von einer Schuhsohle abgefallen. Bei dieser Kälte waren sie nicht geschmolzen, sondern hatten sich mit den Borsten des teuren Teppichs zu einer weißen Kruste verbunden. Die Spuren führten von der Dachterrasse zur Schlafzimmertür. Jemand war dort draußen gewesen und dann durch den Raum ins Vorzimmer gegangen.
    Die Decken auf dem Bett waren ein wenig eingedrückt, dort wo die Schneekönigin nach ihrer Rückkehr aus Tamsins Zimmer gelegen hatte. Doch Plumeau und Kissen waren nicht zerwühlt. Sie hatte sich nicht zugedeckt, was Maus keineswegs wunderte: Die Kälte war ihr Element, womöglich linderte sie ihren Schmerz

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