Frostfeuer
vierten Stock – im fünften gab es keinen Ausgang – und hetzte durch die menschenleeren Korridore Richtung Haupttreppe.
Verräterin!, rief es erneut in ihr, aber diesmal klang der Vorwurf schon schwächer. Sie tat, als hörte sie ihn nicht.
Doch dann waren da plötzlich echte Stimmen, nicht mehr in ihrem Kopf, sondern vor ihr auf dem Flur. Hatte der Rundenmann nicht gesagt, es sei niemand mehr hier? Ein paar Kinder, viel jünger als sie selbst, standen schnatternd vor einer offenen Tür. Offenbar hatten sie sich bis eben in dem Zimmer versteckt. Für sie war dies alles ein großer Spaß, sie feixten und kicherten.
Maus wollte ihnen gerade etwas zurufen, als jemand hinter ihnen auftauchte, lauthals fluchend, weil er die Kleinen wohl gerade erst entdeckt hatte, auf einem letzten Rundgang durch die verlassenen Etagen.
Maus blieb stehen.
»Sieh an«, sagte Maxim. »Du also auch?«
*
Sie spielte mit dem Gedanken, ihn kurzerhand über den Haufen zu rennen. Das Einzige, was sie davon abhielt, waren die Kinder, die den Moment womöglich ausgenutzt hätten, sich im Hotel in alle Winde zu verstreuen. Maxim musste sie ins Freie bringen, und zwar so schnell wie möglich.
»Ich hab jetzt keine Zeit, mit dir zu streiten«, sagte Maus und ging weiter, genau auf ihn zu, so als wäre er gar nicht da.
»Alle müssen das Aurora verlassen«, entgegnete er. »Das gilt auch für dich.«
»Du kannst ja deine Freunde rufen und mich aus dem Notausgang werfen lassen.«
»Du hast es überlebt, oder?«
Sie wartete darauf, dass er ihr den Weg vertrat, doch noch blieb er im Türrahmen des Zimmers stehen und beobachtete mit finsterer Miene, wie sie näher kam. Die Kinder, zwei Jungs und drei Mädchen, deren Eltern sie wahrscheinlich längst anderswo vermuteten, tuschelten miteinander. Sie schienen die Spannung zu spüren, die in der Luft lag. Niemand kicherte mehr.
»Wo willst du hin?«, fragte Maxim argwöhnisch.
»Was geht dich das an?«
»Wenn die Geheimpolizei dich hier drinnen schnappt, wirst du eine Menge Ärger bekommen.«
»Dann geh doch zu ihnen, und erzähl ihnen von mir. Der Concierge wird mächtig stolz auf dich sein.«
»Der kann mich mal. Und die Polizei auch. Ich bleib eh nicht hier im Aurora.«
»So?«, fragte sie, nicht wirklich interessiert, aber in der Hoffnung, dass ihn die Frage ablenkte und er sie nicht schnell genug zu packen bekäme, wenn sie an ihm vorüberlief.
Er rümpfte die Nase. »Eine hoch gestellte Persönlichkeit hat mir einen Posten angeboten.«
Etwas an der Weise, wie er hoch gestellte Persönlichkeit sagte, machte Maus stutzig. Ihr kam eine finstere Ahnung.
»Etwa die Dame aus dem fünften Stock? Die aus der Zarensuite?«
»Ich wüsste nicht, was dich das angeht.« Aber dann konnte er seinen Triumph doch nicht länger für sich behalten.
»Sie hat lange jemanden wie mich gesucht, hat sie gesagt. Jemanden, der sie auf allen ihren Reisen um die Welt begleitet. Einen gebildeten jungen Mann, wie ich einer bin, hat sie gesagt. Und dass sie keinen Dienstboten sucht, auch keinen Kammerdiener, sondern einen …« – seine hübschen Augen leuchteten vor Stolz, – »… einen persönlichen Sekretär.«
»Dann hoffe ich mal, du hast noch nicht gekündigt«, presste Maus hervor.
»Worauf du einen lassen kannst«, sagte er. »Heute Morgen bei Schichtbeginn, gleich als Allererstes. Hab gesagt, dass heute mein letzter Tag ist. Schön dumm geguckt hat er, der Concierge. Soll er in Zukunft doch anderen den Kopf tätscheln.« Das sagte er mit so viel Abscheu, dass Maus einen Herzschlag lang fast so etwas wie Sympathie für ihn empfand.
Maxim drückte die Brust heraus, als hätte ihn seine neue Herrin bereits zum Alleinerben eingesetzt. »Und deshalb ist es mir auch völlig egal, ob du dich weiter im Hotel rumdrückst oder nicht.«
Damit ließ er sie mit großmütiger Geste passieren, breitete gönnerhaft die Arme um die Kinder und trieb sie in die entgegengesetzte Richtung. »Kommt, Kinder. Wir nehmen das hintere Treppenhaus. Kümmert euch nicht um den hässlichen kleinen Jungen. Los jetzt!«
Maus schüttelte stumm den Kopf, schaute über die Schulter und sah die kleine Gruppe davonlaufen, die Kinder jetzt wieder johlend, weil sie das alles furchtbar aufregend fanden, und Maxim in ihrer Mitte wie ein Gockel mit gesträubtem Gefieder. Immerhin, dachte sie, würde er sie sicher nach draußen begleiten.
»Beeilt euch!«, rief sie ihnen nach, dann rannte sie weiter Richtung Haupttreppenhaus.
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