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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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und verlieh ihr neue Kraft.
    Wo steckte Erlen?
    Ihr Blick wanderte über die Koffer und Reisekisten zu dem Rentierfell in der Ecke. Sie würde denselben Fehler kein zweites Mal begehen und sich ganz sicher nicht noch einmal über die Zauberspiegel beugen. Das Fell war nicht mehr wichtig. Sie und Erlen mussten so schnell wie möglich das Hotel verlassen.
    Sie schaute sich ein letztes Mal im Zimmer um und huschte dann hinüber zur Terrassentür. Beim Blick ins Freie schauderte sie, und das lag nicht allein an der Kälte. Die schweren Schneewolken über Sankt Petersburg schimmerten über dem zerklüfteten Dächermeer in kränklichem Graugelb; sie ähnelten den Fettschwarten, die in der Hotelküche von schwabbeligem Suppenfleisch abgeschält wurden. Es war nicht hell genug, um das gefrorene Band der Newa zu erkennen, das sich in nicht allzu großer Entfernung durch die Stadt schlängelte. Auch die Dächer des Winterpalais blieben hinter dem Chaos aus Schneevorhängen unsichtbar.
    Die Fußstapfen auf der Terrasse waren noch nicht zugeschneit. Jemand war vor kurzem hier gewesen. Die Spuren im Schnee verschwanden hinter den riesigen Töpfen, die ein Stück der Terrasse zum Geländer hin abteilten. Wer immer dorthin gegangen war, war anschließend wieder ins Haus zurückgekehrt: Die Stapfen verliefen in beiden Richtungen. Es waren ungemein große Abdrücke, keinesfalls jene von Erlen oder der Schneekönigin. Eigentlich war es unwichtig, wer hier draußen herumgelaufen war, doch eine zweite Stimme flüsterte Maus zu, dass es sehr wohl von Bedeutung sein mochte. Vielleicht von weit größerer, als sie im Augenblick abschätzen konnte.
    Dir bleibt keine Zeit mehr!, schrie es in ihr. Finde Erlen! Verschwinde von hier! Nur das ist wichtig!
    Und dennoch … sie machte einen Schritt über die Schwelle der Terrassentür ins Freie. Die Kälte blieb unverändert, es gab keinen Unterschied mehr zwischen draußen und drinnen. Das Schneetreiben griff mit Fingern aus Eis nach ihr, schmirgelte über ihr Gesicht, drang in ihren Kragen, in ihre Ohren, verklebte ihre Augen.
    Die alte Angst war noch da. Sie meldete sich mit einem unbestimmten Druck in ihrem Brustkorb zurück. Einen Augenblick lang verschlug es ihr den Atem. Ihre Füße hörten auf, ihr zu gehorchen; es war, als hätte ihre Kleidung mit einem Mal an Gewicht gewonnen, um sie an der Schwelle zur Terrasse aufzuhalten. Ihr Herz pochte protestierend, und die Nägel ihrer Fingerspitzen bohrten sich wie von selbst in ihre Handflächen.
    Dennoch machte sie zaghaft Schritt um Schritt.
    Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre ihr wohl bewusst gewesen, dass sie gerade über sich hinauswuchs; doch heute, in Anbetracht der Umstände und dessen, was jeden Moment passieren mochte, kam es ihr kaum noch wie etwas Besonderes vor. Plötzlich schien es keine übermenschliche Hürde mehr zu geben, nur eine Bewegung von einem Fuß vor den anderen.
    Unsicher und verkrampft verließ sie den Schatten des Türrahmens und folgte den breiten Fußstapfen durch den Schnee. Sie fror ganz erbärmlich, ihre Zähne klapperten bei jedem Meter ein wenig mehr. Den regenbogenbunten Regenschirm in ihrer Hand fühlte sie kaum noch, ihre Fingerknöchel verfärbten sich von Weiß zu Hellblau. Aber sie stemmte sich gegen das Schneetreiben, umrundete die Reihe der mächtigen Tontöpfe – und sah, wohin die Spuren führten.
    Vor dem Geländer der Dachterrasse, an einer Stelle, die bei klarem Wetter den allerbesten Blick hinab auf den Newski Prospekt gewährte, lag eine schwarze Holzkiste, halb unter frisch gefallenem Schnee begraben. Sie war fast so lang wie Maus selbst. Drei Metallverschlüsse schimmerten matt in der Winterdämmerung.
    Maus ging davor in die Hocke, strich den Schnee beiseite und ließ einen Verschluss nach dem anderen aufschnappen. Dann hob sie den Deckel so behutsam, als könnte eine Giftschlange darunter hervorschnellen.
    Es war ein Gewehr. Schwarz, lang, auf roten Samt gebettet wie die Juwelen in den Schmuckschatullen reicher Damen.
    Maus’ Blick strich einmal an der Waffe entlang, von der schmalen Mündung bis zu dem dreieckigen Schulterstück. Mit einem Keuchen ließ sie den Deckel der Kiste wieder zufallen. Sie verschwendete keine Zeit darauf, die Verschlüsse herunterzuklappen. Stattdessen suchte ihr Blick noch einmal die Fußstapfen, so groß, als hätte ein Riese sie ins Eis gestanzt. Sie füllten sich allmählich mit Schnee, in ein paar Minuten würden sie unsichtbar sein.
    Nur ein einziger Mensch

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