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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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hatte so große Füße. Nur einer konnte derartige Stapfen hinterlassen. Sie erinnerte sich an die Pfützen aus getautem Schnee im bodenlosen Treppenhaus. An die glitzernde Nässe im Haar des Rundenmannes.
    Abermals klappte sie den Deckel hoch, betrachtete das Gewehr. Dann richtete sie sich auf und schaute durch die wirbelnden Schneeschwaden hinab in die Tiefe. Ihr war entsetzlich schwindelig, und das lag nicht allein an der Höhe. Von hier aus hatte man schnurgerade Sicht auf den verschneiten Prachtboulevard; das Stück, das man von hier aus unter Gewehrfeuer nehmen konnte, war bei Tag mindestens zweihundert Meter lang. Sie hatte keine Ahnung, wie weit der Schuss einer solchen Waffe reichte. Tatsache aber war, dass man von diesem Platz aus alle Zeit der Welt hatte, um sein Ziel ins Visier zu nehmen, und dass in Kürze der Trupp des Zaren genau dort unten entlangziehen würde.
    Sie stolperte einen Schritt zurück, stand einen Augenblick da wie betäubt, fassungslos angesichts dessen, was sie gerade entdeckt hatte. Dann warf sie sich herum, rannte durch den Schnee zurück ins Schlafzimmer der Suite und schlug die Glastür hinter sich zu. Ein paar Flocken wirbelten zu Boden und verfingen sich im Teppich.
    Sie hielt inne und versuchte, ruhiger zu werden. Nicht einmal die Wände um sie herum spendeten ihr Trost. Die Zeit zerrann ihr zwischen den Fingern, aber sie durfte jetzt nichts überstürzen. Sie hatte dem Rundenmann von der Bombe erzählt. Hatte er beschlossen, das Attentat von hier oben aus durchzuführen, weil er all die Jahre lang vergeblich nach der Bombe gesucht hatte?
    Jetzt kannte er den Ort, an dem sie lag. Er war unterwegs dorthin. Jeden Augenblick mochte er das leere Weinfass zur Seite rollen.
    Maus schüttelte den Schnee von ihren Gliedern, ohne dass ihr davon wärmer wurde. Sie verließ das Schlafzimmer.
    Draußen, im Vorraum der Suite, blieb sie stehen. Da war ein Geräusch. Ein Rumpeln, kurz und irgendwie unbeholfen.
    Es kam aus dem Badezimmer.
    Jemand trat von innen gegen die geschlossene Tür.
     
    *
     
    Die Königin lag in der riesigen Badewanne, umhüllt von einem Panzer aus Eis. Nur ihr Kopf schaute aus der gefrorenen Wasseroberfläche hervor. Ihr Gesicht war noch stärker gealtert; Maus hätte sie wohl auf über sechzig geschätzt, hätte sie es nicht besser gewusst. Ihr schneeweißes Haar stand wie eine erstarrte Explosion aus Eiszapfen in alle Richtungen ab. Sie hatte die Augen geschlossen, ihre Lider zuckten. Die Oberfläche des Eises reichte ihr bis zum Kinn.
    Erlen kauerte am Boden und bot ein Bild des Jammers. Seine Hände waren auf den Rücken gefesselt, seine Fußgelenke mit einem Seil straff zusammengeknotet. Seine Kleider sahen schlimmer aus denn je, das Hemd war zu vermoderten Fetzen zerfallen.
    Als Maus hereinkam, hatte sich die Tür verkantet, weil er gleich dahinter lag und mit beiden Füßen dagegen getreten hatte. Maus hatte ihn erst behutsam beiseite schieben müssen, ehe sie den Eingang weit genug öffnen und über ihn hinwegsteigen konnte.
    Das Schlimmste aber war das viele Blut an seinem Mund.
    Ohne der bewusstlosen Schneekönigin weitere Beachtung zu schenken, sank Maus neben Erlen auf die Knie, ließ Tamsins Regenschirm fallen und legte den Kopf des Jungen in ihren Schoß. Mit ihrem Ärmel versuchte sie, das Blut abzutupfen, aber es war auf seinen Zügen festgefroren. Seine Augen waren weit aufgerissen wie die eines Tieres, das nicht begreifen kann, weshalb ein Mensch ihm Schmerzen zufügt.
    »Alles wird wieder gut«, flüsterte Maus, während Tränen über ihre Wangen rollten. »Alles wird gut.« Sie streichelte seinen Kopf und bemerkte, dass sein Haar ebenfalls steif gefroren war. Auch sein Oberkörper war mit einer Eiskruste überzogen, so als wäre Wasser aus der Wanne auf ihn gespritzt und erstarrt.
    Erst jetzt sah sie die verschmierte Blutspur, die vom Rand der Badewanne über das Eis hinweg zu dem schweren Wasserhahn aus Messing führte. Das Aurora war eines der wenigen Gebäude in Sankt Petersburg, die über fließendes Wasser aus Leitungen verfügten. Weil Erlens Hände gefesselt waren, hatte er den Hahn mit den Zähnen geöffnet. Dabei musste er sich an dem Metall den Mund blutig geschlagen haben. Aber warum das alles?
    »Wir müssen hier raus.« Sie begann, mit ihren eiskalten Fingern an seinen Fesseln zu zerren, und zwang sich zur Ruhe, ehe es ihr endlich gelang, die Knoten zu lösen. Als seine Arme frei waren, robbte er mit ihrer Hilfe einen Meter zurück, bis

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