Frostfeuer
zujagte.
Erlen kam einen Herzschlag früher dort an. Mit ganzer Kraft warf er sich gegen die Tür. Sie fiel augenblicklich zu. Das Schnappen des Schlosses ging unter in einem fürchterlichen Krachen, als der regenbogenbunte Schirm mit der Spitze voraus gegen das Holz prallte. Ein hohes Kreischen ertönte, das Maus zuerst für einen weiteren Schrei der Schneekönigin hielt; dann aber begriff sie, dass es aus dem Inneren des Schirms erklungen war. Seine Ränder begannen zu zucken und zu beben wie die Flügel einer Fledermaus kurz vor dem Flug. Die Enden der sternförmigen Streben, die unter dem Stoffrand hervorschauten, zitterten und wuchsen zu gebogenen Spitzen heran, die sich wie ein rundes Maul aus Fangzähnen um den Griff schlossen. Der Schirm zuckte von der Tür fort und sauste unter der Decke entlang, ein lebendes Geschoss, dem Maus mit den Blicken kaum folgen konnte.
Als er erneut in ihre Richtung raste wie ein bösartiges Insekt mit vorgestrecktem Stachel, hatte sich die hölzerne Spitze zu einem einzelnen, bernsteinfarbenen Auge geöffnet: Es saß am vorderen Ende des Schirms, zuckte nach rechts und links und suchte nach einem Fluchtweg aus der Suite.
»Wenn er keine andere Möglichkeit findet, wird er versuchen, die Tür zu zerbrechen!«, rief die Königin.
Als Maus sich zu ihr umsah, hatte die Tyrannin des Nordens sich mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, beide Arme gehoben und die Augen geschlossen. Da fauchte der Schirm auch schon auf sie zu, das blitzende Auge voraus, das zahnbewehrte Maul an seinem hinteren Ende schnappend wie der Schlund eines Raubfischs. Bevor er die Königin erreichen und womöglich aufspießen konnte, schrie sie ihm eine schrille Silbenfolge entgegen. Mit der Kraft einer Sturmböe fegte ihn das Zauberwort beiseite. Trudelnd und mit einem wimmernden Laut flog er davon, zerbrach einen Bilderrahmen, fing sich wieder und drehte abermals seine wütenden, blitzschnellen Kreise unter der Decke.
Plötzlich entdeckte das suchende Auge die offene Tür zum Schlafzimmer. Der Schirm stauchte sich zusammen wie eine Ziehharmonika, holte auf diese Weise Schwung, dehnte sich wieder und schoss wie eine Kanonenkugel ins Nebenzimmer.
Maus hörte ihn im Schlafzimmer umherzischen, surrend und schnappend und fauchend.
»Er sucht nach einem Weg zu seiner Herrin«, sagte die Schneekönigin und klang schrecklich erschöpft. Das eine Abwehrwort schien sie viel von ihrer verbliebenen Kraft gekostet zu haben. »Was hat sie dir gesagt? Dass er dich beschützen würde?«
Maus nickte verbissen. Sie konnte den Blick nicht von der offenen Schlafzimmertür nehmen. Was, wenn der Schirm zurückkehrte und diesmal sie selbst ins Visier nahm?
»Oh, wie arglistig und gemein!«, schimpfte die Königin, als seien ihr solche Eigenschaften so fremd wie ein Hitzegewitter. »Sie hat dich hereingelegt! Die Rückkehr des Schirms ist das Zeichen, auf das sie wartet. Verstehst du denn nicht? Sie wird die Bombe erst zünden, wenn sie ganz sicher ist, dass du mich gefunden hast und ich so geschwächt bin, wie sie es sich erhofft. Der Schirm wird die Kunde von meinem Zustand schneller zu ihr tragen als jeder Nordlandderwisch. Und wenn sie sicher ist, dass die Explosion mich töten wird …« Sie ließ den Rest ungesagt. Maus verstand trotzdem, was sie meinte. Tamsin hatte sie so gründlich ausgetrickst, wie es nur möglich war.
Erlen lehnte noch immer am Ausgang der Suite, als wollte er die Tür mit seinem Leben verteidigen, falls die Königin es verlangte.
»Was können wir tun?« Maus befürchtete, dass der Schirm jeden Augenblick in den Vorraum zurückkehren würde.
Die Schneekönigin machte ein paar unsichere Schritte auf die Tür des Schlafzimmers zu. »Ich kann versuchen, ihn zu halten … aber vernichten kann ich ihn nicht. Nicht, solange der Herzzapfen noch in ihrer Gewalt ist.«
Maus begriff. Und sie fragte sich, ob sie nicht gerade erneut getäuscht und ausgenutzt wurde. Vielleicht war Tamsin einmal im Recht gewesen, als sie die Untertanen der Königin von deren Schreckensherrschaft hatte befreien wollen. Doch für Maus machte das jetzt keinen Unterschied mehr. Und falls die Königin dafür sorgte, dass Maus und Erlen am Leben blieben, nun, dann würde sie jetzt notgedrungen auf ihre Seite wechseln. Die Lage war verzwickt, und je länger sie darüber nachdachte, desto verwirrender wurde alles. Wie auch immer sie sich entschied, es schien das Falsche zu sein.
»Was genau soll ich tun?«
Im Schlafzimmer
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