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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Räumung werde schneller und reibungsloser vonstatten gehen; die engsten Mitarbeiter des Zaren, die den Behörden zu kurzfristig den Verlauf der Route gemeldet hatten.
    Sicher war nur, die Räumung des Hotels verzögerte sich.
    Der Zar würde nicht erfreut sein. Seine gesamte Familie begleitete ihn und den chinesischen Gesandten auf diesem Ausritt, trotz des bitteren Frosts. Es warf ein schlechtes Licht auf die russische Regierung, wenn nicht einmal die Evakuierung einiger dutzend Gebäude innerhalb eines vorgegebenen Zeitplans ausgeführt werden konnte.
    Die Geheimpolizisten in der Eingangshalle des Aurora wussten das. Die Furcht vor den Konsequenzen machte sie nervös und wütend.
    Bald schon ertönten Signale am Ende des Boulevards. Der Zug des Zaren war vom Winterpalais auf den Newski Prospekt eingebogen, hatte die Kasan-Kathedrale passiert und näherte sich dem Hotel Aurora. Schon erzitterte der Boden unter hunderten von Hufen. Eiszapfen brachen von Dachrinnen. Nicht einmal der Schnee konnte die Erschütterungen dämpfen.
    Die Vibrationen waren überall zu spüren: im Tunnel unter dem Straßenpflaster und oben in den menschenleeren Fluren.
Das Kapitel, in dem Maus in den Zylinder greift
    Maus und Erlen stürmten den Korridor hinunter und erreichten Tamsins Zimmer. Sie tauschten einen kurzen Blick. Maus nickte dem Rentierjungen zu, dann drückte sie die Klinke hinunter und trat ein. Er folgte ihr und schob die Tür hinter sich zu.
    Durch die zugezogenen Vorhänge fiel ein trüber Hauch von Winterlicht. Sonnenstrahlen mochten draußen die Wolkendecke erhellen, aber hier drinnen war nichts davon zu sehen. Maus erkannte den Zylinder auf dem Tisch nur als Silhouette. Er lag immer noch da wie ein vergessenes Kleidungsstück. Vom Zauber, der in seinem Inneren Wache hielt, war nichts zu bemerken. Kein Knistern hing in der Luft, keine innere Stimme warnte sie davor, näher heranzugehen. Es hätte ein ganz gewöhnlicher Zylinder aus Filz sein können, zerknautscht und eingedellt. Nichts, woran ein Dieb einen zweiten Blick verschwendet hätte.
    Erlen berührte Maus am Arm und deutete auf die Stühle, die sternförmig um den Tisch herum auf ihren Rückenlehnen lagen; auch jener, den Tamsin am Morgen ans Bett gezogen hatte, befand sich nun wieder in seiner ursprünglichen Position.
    Das Bett war noch genauso zerwühlt, wie sie es am frühen Morgen zurückgelassen hatte. Eine Zeitung vom Vortag lag zerfleddert am Boden. Die Tür zum Bad stand weit offen, Maus konnte sich und den Zylinder in dem großen Spiegel sehen. Es war, als beobachtete sie jemand anderen dabei, einen verhängnisvollen Fehler zu begehen. Am liebsten hätte sie ihrem Spiegelbild zugerufen, es solle die Finger von dem magischen Zylinder lassen und sich schleunigst davonmachen.
    Ihre Hand zitterte, als Maus sie über den Tisch ausstreckte. Das Innere des zerknautschten Huts lag im Schatten, schien aber leer zu sein. Viel schlimmer war, was ihre Fantasie dort hineinzauberte: Vielleicht würden Zähne aus der Krempe wachsen, genau wie aus den Rändern des Regenschirms; das Ding mochte zuschnappen und ihr den Arm abbeißen.
    Erlen stand direkt hinter ihr und ergriff ihre linke Hand. Die Berührung beruhigte sie ein wenig. Er war bei ihr, das war gut. Seine Nähe half ihr, den letzten Schritt zu tun.
    Sein Leben stand auf dem Spiel. Das aller Menschen im Hotel. Von ihrem eigenen ganz zu schweigen.
    Maus drückte Erlens Finger ganz fest, dann schloss sie die Augen und schob ihre rechte Hand ins Innere des Zauberzylinders.
     
    *
     
    Sie glaubte, Erlen schreien zu hören. Aber das mochte Einbildung sein. Die Welt um sie herum zersprang zu Milliarden winziger Farbpunkte, die umherwogten, sich zusammenzogen, neue Formen und Gebilde schufen. Mal verdichteten sie sich zu Reihen aus Säulen und Türmen, die um sich selbst rotierten wie ein Wald aus Wirbelstürmen. Dann wieder bildeten sie vielzackige Sterne vor einem nachtschwarzen Hintergrund, ein gähnendes Nichts, in dem nur die Farbpartikel wie kalte Flammen loderten, verwehten, neue Muster bildeten.
    Es kam ihr vor, als würde sie an ihrer rechten Hand durch diesen Wirbel aus Eindrücken gerissen, vorwärts, seitwärts, um Ecken und in Abgründe hinab. Dann, plötzlich, erstarrten die Farbspiralen und bunten Schleier zu abstrakten Strukturen, zersprangen mit einem grellen Klirren wie tausend Spiegel und rieselten in Splitterfontänen hinab in die lichtlose Leere.
    Maus schlug die Augen auf – wann hatte sie die

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