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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ein verhängnisvolles Glücksspiel.
    Wenn sie sterben musste, um die Königin zu töten – gut, damit konnte sie, nun ja, leben. Aber nicht ohne die Gewissheit, dass sie ihr Ziel auch erreicht hatte.
    Sie fürchtete den Tod nicht. Dazu war sie viel zu interessiert an allem, was danach kommen mochte. Schon jetzt juckte es sie vor lauter Neugier. Warum hatten alle solche Angst davor? Hatten etwa die großen Entdecker nur an sich selbst gedacht, als sie zum ersten Mal den Atlantik überquert, nach den Quellen des Nils gesucht oder die Eiswüsten der Antarktis erforscht hatten? Manchmal musste man den Schritt ins Ungewisse tun, um eine neue Wahrheit zu erkennen. Einen unbekannten Kontinent zu entdecken. Ein uraltes Rätsel der Menschheit zu lösen. Und lag es nicht viel näher, dabei Hoffnung statt Furcht zu empfinden?
    Tamsin legte das Buch zurück auf seinen Stapel und streckte sich. Sie hätte nervös sein müssen, doch davon spürte sie nichts. Müde war sie, gewiss. Noch immer erhielt sie den Zauber der Sieben Pforten aufrecht, und das kostete Kraft, erst recht aus solcher Entfernung. Zudem hatte sie tagelang kaum geschlafen, und wenn doch, dann ließen ihr die Träume keine Ruhe. In ihnen sah sie sich zurückversetzt in die Feste der Schneekönigin, und erneut durchlebte sie die namenlosen Schrecken jenes Ortes. Sie hatte Dinge gesehen, die selbst ihren Vater hatten erbleichen lassen. Mächte von jenseits der Nacht. Kreaturen aus der Kälte des Anbeginns. Und ein Gefühl absoluter Leere in den kathedralengleichen Hallen aus Eis.
    Die Menschen, die Master Spellwell und seine Tochter mit dem Sturz der Tyrannin beauftragt hatten, waren aus den unterschiedlichsten Gründen in dieser Gegend gestrandet. Die Königin hatte sie gezwungen zu bleiben, als Untertanen, für die sie gar keine Verwendung hatte und die sie sich dennoch hielt, um wahrlich eine Königin zu sein, kein legendäres Schreckgespenst aus Frost und Bosheit. Die Herrin des Nordens hatte sich niemals die Mühe gemacht, Gründe für ihr Handeln zu finden. Es war wie mit den kleinen Jungen, die sie sich dann und wann an ihre Seite holte. Sie wollte einen Sohn, also stahl sie sich einen; und wenn er da war, wurde sie seiner bald überdrüssig. Sie wollte Untertanen, also lockte sie Menschen ins Nordland; aber was sie mit ihnen anfangen sollte, das wusste sie nicht. Nie war nachzuvollziehen, warum sie etwas tat, und das machte sie unberechenbar. Man hätte meinen können, Böses bereitete ihr schlichtweg Spaß – wäre sie in Wahrheit nicht unfähig gewesen, eine Regung wie Spaß überhaupt zu empfinden.
    Tamsin überprüfte noch einmal, ob die Zündschnur bis zum Anschlag im Eisenstern steckte, dann streckte sie sich, gähnte herzhaft und stellte – durchaus mit einigen Skrupeln – fest, dass sie sich langweilte. Wo blieb der Schirm? Mittlerweile sollte Maus die Suite doch erreicht haben. War sie den Geheimpolizisten über den Weg gelaufen, die das Hotel räumten? Gut möglich. Aber Tamsin hatte Maus mit Bedacht als Helferin ausgewählt; sie traute ihr zu, selbst der Polizei ein Schnippchen zu schlagen. Schade nur, dass Maus sich selbst nicht traute. Sie weigerte sich, ihre Gaben und Talente zu akzeptieren. Was ihr fehlte, war der Glaube an sich selbst. Tamsin gab nicht viel auf Altersunterschiede, und so suchte sie die Erklärung dafür nicht in Maus’ Jugend. Sie hatte ihren Vater bei den unmöglichsten Aufträgen begleitet, als sie nicht einmal zehn gewesen war. Pallis, ihre jüngste Schwester, war gleichfalls ein Beweis dafür, dass Alter keine Rolle spielte. Nur wollen musste Maus. Aber dabei konnte ihr niemand helfen, nicht einmal Tamsin Spellwell und ihr Koffer voller Worte.
    Es war sehr still in dem blinden Tunnelende. Tamsins Herzschlag und ihr Atem waren das Einzige, was sie hörte. Deshalb war sie vor allem überrascht – gar nicht mal erschrocken –, als jemand auf der anderen Seite des Spalts das Weinfass beiseite rollte. Sie hätte ihn lange vorher hören müssen, draußen in den Gewölben. Und nun sah sie ihn auch. Maus hatte nicht übertrieben, als sie von ihm erzählt hatte.
    Trotz seiner enormen Größe glitt er in einer fließenden Bewegung durch den Mauerspalt und blieb auf Höhe des schrägen Balkens stehen. Tamsin war aufgesprungen, und nun starrten sie sich über den Eisenstern hinweg an, schweigend wie zwei Menschen, die einander gut kannten, ohne je ein Wort miteinander gesprochen zu haben. Beide wollten sie das Gleiche – und

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