Frostfeuer
plötzlich, wie weit ihre eigenen Skrupel gingen. Der Schirm war noch nicht zurückgekehrt; vielleicht musste sie ohnehin warten, bis der Tross des Zaren das Hotel erreichte. Mehr noch, sie hätte von hier verschwinden können, ohne selbst bei der Explosion ums Leben zu kommen, wenn der Rundenmann so versessen darauf war, die Bombe eigenhändig zu zünden.
Aber wenn er sie zu spät zündet, sagte sie sich, ist die Königin vielleicht geflohen. Und dann wäre alles umsonst gewesen.
Insgeheim hatte sie noch einen anderen Grund, aber den gestand sie sich nur ungern ein: Wenn schon irgendjemand über Leben und Tod zu entscheiden hatte, dann wollte sie selbst das sein. Sie konnte die Lunte anzünden, wenn es nötig war. Oder sie konnte es bleiben lassen.
Sie schüttelte unwillig den Kopf. Sie stand kurz vor dem endgültigen Sieg über die Schneekönigin. Was brachte sie auf die Idee, ihren größten Trumpf nicht auszuspielen? Natürlich würde sie die Bombe zünden.
»Der Zar hat den Tod verdient«, stöhnte der Rundenmann.
»Warum hassen Sie ihn so sehr? Sehen Sie nur, wohin Sie das geführt hat.«
»Das Volk leidet.« Er nuschelte nun, weil Konfetti über seine Lippen quoll. »In den Straßen verhungern die Menschen. Die Gesellschaft ist –«
»Ich bitte Sie! Ich könnte einem meiner Worte befehlen, dass es die Wahrheit ausgräbt – buchstäblich, wie es eben Art der Worte ist. Aber ist das wirklich nötig?«
Der Rundenmann bäumte sich auf, doch das sechste Wort hielt ihn am Boden fest. »Auf seinen Befehl hin sind Menschen getötet worden, die mir … viel bedeutet haben.«
»Andere Nihilisten?«
»Ja.« Noch mehr Konfetti, gelb und rot und grün und blau. Sogar zinnoberrot, wie Tamsins Mantel.
»Jemand Bestimmtes?«
Sein Blick war hasserfüllt. »Was geht Sie das an?«
Tamsin beugte sich vor und presste mit dem Zeigefinger so fest auf seine Brust, dass sich das äußere Fingerglied nach hinten bog. »Ich will die Wahrheit hören. Und Sie wissen, warum.«
»Als der letzte Zar ermordet wurde, war ich Student, genau wie die anderen. Ich kannte alle, die damals hingerichtet worden sind.« Verächtlich schob er sich mit der Zungenspitze Konfetti aus dem Mundwinkel. »Eine von ihnen war meine Verlobte.«
»Julia«, flüsterte Tamsin. »Maus’ Mutter.«
»Woher …?«
Sie zuckte die Achseln. »Geraten.«
Der Rundenmann schwieg.
»Und sie hat Ihnen nicht erzählt, wo sie die Bombe versteckt hat?«
»In diesen Dingen hat sie niemandem getraut. Nicht mir jedenfalls. Es sind immer wieder … Fehler gemacht worden. Tölpelhafte Missgeschicke. Wir waren alle so jung damals.«
»Fehler wie der, dass Julias Name in Nikolai Iwanowitschs Wohnung gefunden wurde?«
Er nickte.
»Sie haben die ganze Zeit über gewusst, wer Maus ist, nicht wahr?«
Noch ein Nicken.
»Und trotzdem haben Sie sie so behandelt?«
»Julia war meine Verlobte«, sagte er grimmig. »Aber deshalb ist Maus nicht meine Tochter.«
Tamsin ging ein Licht auf. »Etwa … nein, das ist nicht wahr, oder? Ich meine … Nikolai Iwanowitsch? War er der Vater?«
Der Rundenmann sagte nichts darauf.
Tamsin fluchte. »Maus sollte das besser nicht erfahren, denken Sie nicht auch? Wir tun einfach so, als hätten Sie mir nichts davon erzählt.«
»Das habe ich auch nicht.«
Mit einem leisen Seufzen erhob sie sich, ging an ihm vorbei zum Mauerspalt und horchte ins Dunkel des Weinkellers. Noch immer kein Anzeichen, dass der Schirm zurückkehrte. Vielleicht war tatsächlich etwas Unvorhergesehenes geschehen.
»Ich hätte dem kleinen Biest den Hals umdrehen sollen«, krächzte der Rundenmann. »Sie ist schuld an allem. Wäre Julia nicht schwanger gewesen, wäre sie niemals entdeckt worden.«
Ohne sich umzudrehen, flüsterte Tamsin das achte Wort.
*
Fluchende Geheimpolizisten trieben immer noch Menschen durch die Drehtür hinaus auf den Boulevard. Diplomaten drohten mit Konsequenzen und Berichten an ihre Regierungen. Kinder quengelten und heulten. Hoch gestellte Damen versuchten, die barschen Anweisungen der Polizisten zu befolgen, ohne die Contenance zu verlieren. Und sie alle, Gäste, Polizisten und Hotelangestellte, taten ihr Bestes, die mörderische Kälte zu ignorieren, die wie eine Glocke um das Aurora lag und erst einen Block weiter südlich, abseits des Newski Prospekt, ein wenig nachließ.
Irgendwer hatte einen Fehler begangen: die Hoteldirektion, weil sie zu wenige Gäste gezählt hatte; die Polizei, weil sie geglaubt hatte, die
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