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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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den Arm ausstrecken, um an die Klinke heranzukommen.
    Die Angst pulsierte in ihr wie ein zweites Herz, schnürte ihr die Luft ab und verkrampfte ihre Muskeln. Du darfst dich nicht fürchten!, redete sie sich ein, aber für sie selbst klang das wie die Stimme eines Erwachsenen, der keine Ahnung hatte, wovor man sich wirklich fürchten musste: vor der Dunkelheit, zum Beispiel; vor dem Ding unter dem Bett, das sich nur zeigt, wenn das Licht erlischt. Es war genau diese Art von Furcht, die Maus jetzt quälte – angeborene Panik, gegen die man sich auflehnen, die man aber erst mit den Jahren überwinden kann. Und auch dann nicht immer ganz.
    Hab keine Angst!, hämmerte sie sich wieder und wieder ein. Du bekommst dein Haar zurück, deine Haut, sogar deinen Schweiß, wenn du den Weg zurückgehst. Nichts von alldem ist für immer verloren.
    Vorausgesetzt, sie schaffte es durch die letzte Pforte.
    Dann ist nur noch dein freier Wille übrig, dein wahres Selbst, hatte die Königin gesagt. Doch war es nicht gerade das, woran es Maus immer gemangelt hatte? Selbstvertrauen. Die Gewissheit, alles erreichen zu können, wenn sie nur fest genug daran glaubte. Ausgerechnet!
    Aber dennoch – hatte sie etwa nicht das Hotel verlassen, als es darauf angekommen war? Sie hatte es geschafft und würde es wieder schaffen. Genau wie das hier.
    Sie stieß die dritte Tür auf und ließ ihre Haut zurück.
    Ein Zwicken, ein Zwacken, ein Reißen und Schnippeln raste über ihren Körper, so als machten sich die Scheren von zehntausend Ohrenkneifern daran zu schaffen. Aber noch ehe der Schmerz durch die Nervenbahnen zum Hirn fegen konnte, war es schon wieder vorbei.
    Hautlos, wie die Abbildung in einem von Kukuschkas Biologiebüchern, ging sie weiter. Mit ihrer Haut war auch ihre Kleidung verschwunden. Ihre Muskeln, Sehnen und Blutgefäße lagen offen. Alles glitzerte und glänzte, schillerte in allen Farben des Regenbogens, pulsierte und bebte und funkelte roh. So also sehe ich darunter aus, dachte sie verblüfft. Sie wartete vergeblich darauf, dass sich heillose Panik einstellte. Stattdessen brachte Maus es fertig, an sich hinabzusehen, sich selbst zu inspizieren wie einen faszinierenden Fremdkörper. Ein wenig Ekel überkam sie, aber selbst der hielt sich in Grenzen. Nach einem Augenblick begann sie gar, Schönes an sich zu entdecken, zum allerersten Mal in ihrem Leben. Ja, unter ihrer Haut, der spröden Verpackung des Mädchenjungen, war auch sie wunderschön und glanzvoll, beinahe elegant. Niemals hätte sie gedacht, dass ihr beim Nachdenken über sich selbst je das Wort Perfektion in den Sinn käme. Aber der rohe, unverhüllte Leib, der sie jetzt in Richtung der vierten Tür trug, schien ihr genau das zu sein: geradezu vollkommen.
    Der nächste Durchgang war nicht größer als der davor, und das war eine weitere Überraschung. Auch der Gang hatte die Maße des vorherigen. Konnte das damit zu tun haben, dass sie jetzt ihre Angst im Zaum hielt? Hörte sie auf, sich klein zu fühlen, und wurde dadurch auch die Umgebung nicht mehr größer?
    Sie konnte sich nicht vorstellen, dass irgendetwas schlimmer sein könnte, als gehäutet zu werden. Jetzt waren ihre Adern an der Reihe, und das schien ihr im Vergleich dazu ein geringer Verlust.
    Durch die vierte Tür, weiter, immer weiter dem Herzzapfen entgegen. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass der Schmerz eine Weile länger anhielt, vielleicht keine Sekunde, aber doch lange genug, um sich wie Klingen in ihr Bewusstsein zu graben. Die Adern verschwanden nicht einfach – sie wurden aus ihr herausgezogen. Wie man einen losen Faden aus einem Stofftier zerrt, so rissen unsichtbare Hände die Blutbahnen aus dem Geschlinge ihrer Muskeln, Knochen und Innereien. In einem wirbelnden Chaos aus rotblauen Strängen, verwickelt und verknotet, wogten die Adern bloßgelegt vor ihren Augen. Ein wirres Netz, verästelt wie eine Baumkrone. Dann waren sie fort. Und Maus ging weiter.
    Sie zitterte jetzt ein wenig. Erstmals kamen ihr wieder Zweifel. Sie fürchtete sich vor weiteren Schmerzen, vor allem aber vor den Verlusten, die ihr erst noch bevorstanden. Kinder weinten manchmal bei dem Gedanken, dass ihre Eltern irgendwann sterben mussten, ganz gleich, wie fern dieser Tag noch sein mochte; sie weinten vor Angst, dass ihnen etwas genommen werden würde, ohne das sie sich ihr Leben nicht vorstellen konnten. Ganz ähnlich erging es jetzt Maus. Bisher hatte sie nur Teile ihres Körpers verloren, Schalen der bloßen

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