Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
doch aus unterschiedlichen Gründen.
    Der Lederkoffer stand neben Tamsin am Boden. Seine Schnallen waren geöffnet, aber sie hatte nicht gewagt, den Deckel für Fälle wie diesen aufgeklappt zu lassen. Man wusste nie, auf was für Ideen die Worte kamen, wenn man es ihnen allzu leicht machte. Einzeln ließen sie sich kontrollieren, doch auch das nur, wenn sie es gut mit einem meinten; falls sie sich aber zusammenrotteten und Schabernack im Schilde führten, konnten sie eine wahre Plage sein. Wer schätzte es schon, gekaut, verschluckt und ausgespuckt zu werden? Auch ein Wort war nur ein Mensch. Jedenfalls tat es manchmal so.
    »Sie haben da etwas, nach dem ich lange gesucht habe«, brach der Rundenmann das Schweigen zwischen ihnen.
    »Das war nicht mein Verdienst«, erwiderte Tamsin. »Maus hat mich hergeführt.«
    »Ich hätte mir früher denken sollen, dass sie Julias Bombe gefunden hat.«
    »Vielleicht hätten Sie zur Abwechslung einfach mal nett zu ihr sein sollen.«
    »Ich war zumindest ehrlich.«
    Das traf sie mehr, als sie sich eingestehen mochte. »Sie sind also einer der berühmten Nihilisten.«
    »Und Sie eine Spellwell, nicht wahr? Ich habe von Ihrer Familie gehört.«
    »Sehen Sie, das ist einer der Nachteile, wenn man im Revolutionsgeschäft tätig ist. All der Klatsch und Tratsch … ganz fürchterlich. Jeder kennt jeden. Alle fühlen sich als Teil eines großen, weltumspannenden Ganzen. Ziemlicher Bockmist, wenn Sie mich fragen. Aber genug davon. Unser Problem hier und heute ist leider, dass sich unsere Ziele nicht so recht miteinander vertragen. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
    Er schüttelte stumm den Kopf.
    »Sehen Sie, meine Familie ist dafür bekannt, dass sie jeden Auftrag zu Ende bringt. Und der Auftrag, der mich nach Sankt Petersburg geführt hat, lautet nun einmal nicht, Russland von seinem ungeliebten Despoten zu befreien.«
    »Hmm«, machte er.
    »Haben Sie das wirklich geglaubt?« Tamsin bewegte den linken Fuß unmerklich ein wenig näher zum Koffer hin. »Dass ich hier bin, weil wir dasselbe Ziel verfolgen? Dann tut es mir Leid, dass ich Sie enttäuschen muss … Wirklich, der Zar ist mir vollkommen gleichgültig.«
    »Was wollen Sie dann?«
    »Ein anderer Grundsatz der Familie Spellwell ist, das ahnen Sie sicher, unsere Verschwiegenheit. Diskretion ist in unserem Beruf das A und O.«
    »Haben Sie keine eigenen Überzeugungen? Kein Unrechtsempfinden?« Dieses Wort aus seinem Mund verwunderte sie. Sein grobschlächtiges Äußeres täuschte.
    »Unrechtsempfinden«, wiederholte sie nachdenklich.
    »Oh doch. Es ist ungerecht, wenn Blumen mit besonders hübschen Blüten welken. Oder wenn ein Droschkenfahrer mich am Straßenrand stehen lässt, weil zehn Meter weiter jemand winkt, der reicher aussieht als ich. Oder wenn es ausgerechnet dann regnet, wenn ich zum ersten Mal mein Sommerkleid trage.«
    »Ja«, sagte er und zog einen Revolver. »Oder wenn jemand eine wehrlose Frau mit einer Waffe bedroht.«
    Sie runzelte die Stirn und tat, als brächte sie das zum Grübeln.
    Er gab ihr mit dem Revolver einen Wink. »Nehmen Sie die Hände über den Kopf. Drehen Sie sich mit dem Gesicht zur Wand.«
    »Gott, und ich dachte schon, die Leute wüssten wirklich zu viel über uns.« Ihre Fußspitze klappte den Kofferdeckel nach oben. Er fiel nach hinten und landete lautlos auf den Kissen.
    Das erste Wort, das sie herbeirief, pflückte die Kugel aus der Luft, auf halber Strecke zwischen der Revolvermündung und Tamsins Brust. Das zweite Wort fuhr unter die Gesichtshaut des Rundenmannes und brachte ihn dazu, verrückte Grimassen zu schneiden. Das dritte Wort ließ seine Fingernägel wachsen, bis sie sich um die Waffe wickelten wie ein Wollknäuel aus Horn. Das vierte bereitete ihm scheußliche Zahnschmerzen. Das fünfte zupfte ihm die Augenbrauen. Das sechste warf ihn zu Boden und hielt ihn dort fest. Das siebte verwandelte seinen Mundgeruch in buntes Konfetti.
    Das achte schwebte in der Luft und wartete auf Tamsins Befehl.
    »Oje«, sagte sie bedauernd und stellte sich neben ihn. Er lag am Boden und schnitt Grimassen. »Lass das!«, befahl sie dem zweiten Wort, und mit einigem Murren zog es sich von ihm zurück. Darüber ärgerte sich das vierte Wort und beendete die Zahnschmerzen. Tamsins Macht über Worte war schwach, solange sie sie nicht vorher verschluckte und zu einem Teil von sich machte.
    »Ich kann leider nicht zulassen, dass Sie die Bombe für Ihre Zwecke nutzen«, erklärte sie und fragte sich

Weitere Kostenlose Bücher