Frostfeuer
Hülle. Aber was kam als Nächstes? Ihre Muskeln – ihr Herz! Wie sollte sie ohne Herz überleben können?
Sie ging durch die fünfte Tür. Und erkannte die Wahrheit. Wer sagt, man fühle mit dem Herz allein, der lügt, dachte sie verwundert. Denn sie spürte, wie es ihr aus der Brust gepflückt wurde und nur eine leere Höhlung zurückblieb, fühlte selbst dann, als nur noch Knochen übrig blieben, ein bleiches, blank poliertes Gerippe.
Sie verharrte kurz, blickte an sich hinunter, sah durch den leeren Rippenkäfig bis zur Wirbelsäule, sah gelbliche Gelenke und Knochenpfannen, sah ihr Becken wie eine leere Schüssel auf dürren, knöchernen Beinen ruhen. Ihre Finger strichen über blanke Zähne, tasteten in leere Augenhöhlen. Unter ihrer Schädeldecke war jetzt nichts als Luft und der Wille weiterzugehen. Tatsächlich – ihr Wille hielt sie aufrecht, ließ sie knöchrig-klapprig weiterstaksen, durch einen Korridor, der jetzt ganz schmal und niedrig war. Mit ihren Gedanken war auch der letzte Rest Angst verschwunden. Sie war nur sie selbst, und die Umgebung hatte aufgehört, eine fremde, Furcht einflößende Szenerie zu sein. Nur Illusion, nur Abbild von etwas, das einmal in ihrer Erinnerung gelegen hatte wie vergilbte Zeichnungen in einer Schublade.
Die sechste Pforte, eine bescheidene Eichentür.
Etwas hieb von oben auf sie herab wie der Hammer auf den Amboss eines Hufschmieds. Mit ungeheurer Macht, mit der Wucht von Kometen, die im Weltall kollidieren. Der Schlag zertrümmerte, was von ihrem Körper übrig war, zerblies ihre Gebeine zu Staub. Zurück blieb ein Hauch von Knochenmehl, verteilt über den Teppich und die Schmuckleisten der Holztäfelung.
Ihre Seele aber ging, sie trieb, sie schwebte weiter – der siebten Tür entgegen.
Klein und unscheinbar war diese letzte Pforte, und unscheinbar auch das Entblättern ihres Willens von der Seele. Maus spürte erst nach einer Weile, dass sie fort war, so wie einem plötzlich bewusst wird, dass ein Kopfschmerz verschwunden ist.
In ihr gab es jetzt keine Gedanken mehr, kein Überlegen oder Abwägen. Übrig war nur ihr Wille. Nur der Drang, etwas ganz Bestimmtes zu tun. Sie hatte nie geahnt, dass sie etwas Derartiges in sich trug, einen harten Kern aus Selbstvertrauen, den nicht einmal die Sieben Pforten klein bekamen. Das also war sie. Die Essenz von allem, was sie ausmachte. Kein Mensch hatte jemals so ungetrübt in sein Innerstes geblickt, hatte sich selbst so gut kennen gelernt.
Die letzte Tür machte den Weg frei zum Raum jenseits der Siebten Pforte.
Maus betrat das Allerheiligste.
Vor ihr lag der Herzzapfen.
*
Unten im Keller spürte Tamsin, dass der Zauber der Sieben Pforten gebrochen war. Sie spürte es wie einen Huftritt in die Magengrube, so unvermittelt und heftig, dass sie sich unter Krämpfen krümmte und mit einer Hand an der Wand abstützen musste.
Maus!, dachte sie und wand sich vor Schmerz.
Oh, Maus!
*
Maus zog die Hand aus dem Inneren des Zylinders und spürte den Frost zwischen ihren Fingern, noch bevor sie sah, was sie hielten.
Sie stand wieder im blassgrauen Winterlicht, das durch Ritzen zwischen den Vorhängen ins Zimmer fiel. Erlen musterte sie aus besorgten Augen. Doch sie achtete nicht auf den Rentierjungen. Denn die Kälte, die sie in ihren Fingern hielt, beherrschte ihre Gedanken und füllte sie aus.
Das Ding hätte ein beliebiger Eiszapfen sein können, wie es sie zu tausenden und abertausenden an der Fassade des Hotels gab. Er war nicht länger als ihr Zeigefinger, auch nicht viel breiter, aber seine Spitze war so scharf wie die einer Nadel. Die Kälte war kaum auszuhalten. Aber als Maus schon glaubte, der Zapfen würde an ihrer Hand festfrieren, rollte er wie aus eigener Kraft über ihre Fingerkuppen – und wurde von Erlen aufgefangen.
Der Junge stieß ein Stöhnen aus, zögerte eine Sekunde, dann warf er Maus den Zapfen wieder zu. Es war nur ihren Reflexen zu verdanken, dass sie ihn auffing. Haben wollte sie ihn nicht, obschon einer von ihnen das Eisgebilde tragen musste.
Der Zapfen tanzte auf ihrer offenen Handfläche wie ein Maiskorn in einer heißen Pfanne. Erst als sie mit den Fingern das Eis umschloss, hielt er still und fügte sich ihrem Willen.
Maus blickte an sich selbst hinab. Nichts an ihr war anders als vor ihrem Weg durch die Sieben Pforten. Ihre Haut, ihr Haar, ihre Kleidung – alles war an Ort und Stelle. Auf dem Rückweg hatten sich die Schalen um ihr unsichtbares Ich wieder
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