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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Lampe war noch warm, Tamsin musste sie eben erst gelöscht haben. Mit geübten Handbewegungen brachte sie eine Flamme zustande. Flackernder Lichtschein fiel über die Vorhänge an den Wänden der Tunnelkammer. Der Faltenwurf des Stoffes schuf breite, tiefe Schatten.
    Oben auf dem Eisenstern stand die Kerze, handhoch und so glatt, als hätte sie niemals gebrannt. Auch der Docht war unberührt und mit einer dünnen Wachsschicht überzogen. Tamsin hatte Recht behalten: Die Kerze hatte sich vollständig wiederhergestellt. Die Frist war abgelaufen.
    Aber der Eisenstern war nicht explodiert.
    Maus bückte sich erneut und suchte nach der Öffnung. Es steckte keine Zündschnur darin. Stattdessen war das kleine Loch mit etwas Weißem versiegelt. Kerzenwachs.
    Oh, Tamsin …
    Sie schluckte, kämpfte erneut gegen Tränen, aber diesmal aus einem anderen Grund. Unweit der Öffnung lag die zerknüllte Lunte am Boden, daneben ein Zettel, auf dem in hastiger Handschrift etwas niedergeschrieben war:
    Manchmal trifft man die falschen Entscheidungen. Und manchmal die richtigen, die aus einem anderen Blickwinkel trotzdem falsch sind. Irgendwann wirst du das verstehen. Das alles hier ist meine Angelegenheit. Sie hat nichts mit dir oder dem Aurora oder gar dem Zaren zu tun. Es tut mir Leid, dass ich das nicht früher erkannt habe. Es tut mir Leid, dass ich dir Angst gemacht habe. Und es tut mir Leid, dass ich das Bild an der Wand ruiniert habe.
    Leb wohl!
    Deine Freundin Tamsin
    Maus überflog die Worte ein zweites Mal. Eine Träne fiel von ihrer Wange und ließ die Unterschrift verschwimmen. Dann kehrte ihr Blick erneut zu Tamsins letztem Satz zurück.
    Mit bebenden Knien stand sie auf, den Brief in der linken, die Lampe in der rechten Hand. Sie sah über den Eisenstern zur Stirnwand am Tunnelende. Es gab hier nur ein einziges Bild. Das Gemälde des jungen Adeligen mit den freundlichen Augen.
    Sie musste die Petroleumlampe über den Kopf heben. Ihr Schein glitt über die zerwühlten Kissen, kletterte am rohen Fels der Wand empor und berührte den Bilderrahmen.
    Maus entfuhr ein halb verschlucktes Keuchen. Instinktiv sprang sie einen Schritt zurück, stolperte über ein paar offene Hutschachteln, hielt sich aber schwankend auf den Beinen.
    »Maus?«, rief Kukuschka besorgt. »Was ist passiert?«
    Sie antwortete nicht. Ihre Stimme hätte ihr nicht gehorcht, selbst wenn sie es versucht hätte.
    Erneut trat sie vor, diesmal am Eisenstern vorüber, näher an die Felswand und den schweren Bilderrahmen. Der Lichtschein zitterte, als sie die Lampe abermals hob, jetzt genau auf Höhe des Gemäldes.
    Sie konnte die breiten Pinselfurchen erkennen, die haarscharfen Grate zwischen den einzelnen Farbbahnen. Daran hatte sich nichts geändert.
    Nur das Gesicht im Bild war ein anderes.
    Der Rundenmann hatte in Panik die Fäuste erhoben, als hämmere er gegen eine unsichtbare Wand. Sein Gesicht schien noch breiter als sonst, die Augen verkniffener. Er hatte die Zähne gefletscht wie eine tollwütige Dogge. Aber er rührte sich nicht, war vollkommen steif, ganz in Öl gemalt. So stand er da, geronnen zu einem Gespinst aus Pinselstrichen, erstarrt in der Zeit wie ein Insekt im Bernstein.
Das Kapitel, in dem Maus nicht tut, was man ihr sagt
     »Das ist doch Wahnsinn!«
    »Du kannst ja hier bleiben.«
    »Sie hätte das nicht gewollt. Ganz bestimmt nicht.«
    Maus verzog das Gesicht. »Manchmal weiß Tamsin nicht so recht, was sie wirklich will … glaube ich.«
    Kukuschka sagte nichts mehr, klammerte sich nur noch fester an den Hals des Rentiers, während Erlen sie in fliegendem Galopp durch die verlassenen Kellergänge trug. Maus hielt sich an Kukuschka fest, obgleich es ihr lieber gewesen wäre, wenn er nicht bei ihr gewesen wäre. Draußen im Schnee, außerhalb des Hotels, wäre er sicherer. Genau wie Erlen. Aber sie brauchte das Rentier, weil es so viel schneller war als sie selbst. Und da Kukuschka keine Anstalten machte, erneut vom Rücken des Tiers zu klettern, musste sie auch ihn wohl oder übel mitnehmen. Erlen sprengte die Stufen hinauf ins Erdgeschoss. Das ganze Gebäude schien zu dröhnen und zu zittern von den Hufen des Reiterkorsos, der das Hotel jetzt fast erreicht hatte. Vom Korridor aus konnte Maus einen kurzen Blick in die Eingangshalle werfen, doch jenseits der gläsernen Drehtür sah sie nichts als Weiß und Grau: der verschneite Newski Prospekt. Dort draußen war endlich alles abgeriegelt, die Hotelgäste und übrigen Anwohner

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