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Frostfeuer

Frostfeuer

Titel: Frostfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Einsturz gebracht! Scherben, so groß wie die Eiszapfen vor den Fenstern, stürzten am Geländer vorbei in den Abgrund. Manche zerplatzten direkt neben Maus auf den Stufen. Kristallscharfe Splitter zischten beim Aufprall wie Schrapnellgeschosse in alle Richtungen. Maus spürte ein Stechen, aber als sie den Kopf hob und genauer hinsah, konnte sie keine gefährlichen Verletzungen finden, nur ein paar harmlose Kratzer.
    Eisige Kälte fauchte auf sie herab. Als Maus wie betäubt ans Geländer tappte und vorsichtig nach oben blickte, war die Kuppel verschwunden. Schnee rieselte friedlich an ihr vorbei in die Tiefe. Ihr Blick folgte dem Fall der Flocken, und dann sah sie, dass das Treppenhaus nun doch einen sichtbaren Boden hatte: Der schwarze Schiefer, der sonst dort unten alles Licht schluckte, war jetzt mit einem Meer aus Glasscherben überzogen, die das weiße Winterlicht reflektierten.
    »Maus?«, brüllte Kukuschka von jenseits der Tür, zwei Etagen tiefer. Die Fallwinde von oben zerfledderten ihren Namen zu Silbensalat.
    »Alles in Ordnung!«, erwiderte sie mit flauer Stimme. »Mir ist nichts passiert.«
    »Komm zurück!«
    »Nein!«, entgegnete sie und lief weiter.
    Falls Kukuschka erneut nach ihr rief, hörte sie es nicht mehr. Ihre Schuhe knirschten über gesplittertes Glas. Das Fauchen und Grollen der Winde war ohrenbetäubend. Sie fragte sich, was passiert war. Dass Tamsin und die Schneekönigin dahinter steckten, schien sicher. Es hatte geklungen wie eine Explosion im Dachgeschoss, aber von Feuer oder auch nur Hitze war nichts zu spüren gewesen.
    Wie reagierten wohl gerade die Soldaten und der Tross des Zaren? Vermutlich brachte man erst einmal den Herrscher und seine Begleiter in Sicherheit und bildete einen weiten Sicherheitsbereich um das Hotel. Falls man die Erschütterungen für Detonationen hielt, würde man wohl sichergehen wollen, dass keine weiteren Bomben explodierten, bevor man Geheimpolizisten und Militär ins Innere des Aurora schickte. Hoffte sie. Aber vielleicht war ja auch alles ganz anders.
    Sie lief noch schneller. Je höher sie kam, desto mehr Trümmerstücke der Glaskuppel lagen auf den Stufen, nicht nur Scherben, sondern auch Metallstreben und Reste von Holzrahmen. Bald erkannte sie, dass sowohl die Kuppel selbst zerstört worden war als auch der Rand des Daches, das sie eingefasst hatte. Sie war neugierig, wie es im Obergeschoss aussah, aber nur im vierten Stockwerk – dem vorletzten – gab es einen Ausgang. Sie verließ das Treppenhaus und passierte die Stelle, an der sie Maxim und den Kindern begegnet war. Jetzt war hier niemand mehr, alles war ruhig. Nur aus der Etage über ihr ertönte noch immer mysteriöser Lärm.
    Durch einen Seitenkorridor gelangte sie zum Notausgang. Sie riss den Riegel auf, atmete tief durch – und wollte hinaustreten auf die Feuertreppe. Aber da war keine Treppe mehr. Etwas hatte die gesamte Gitterkonstruktion aus ihren Verankerungen gerissen. Jetzt hing das eiserne Ungetüm verdreht und verknotet zwischen der Außenwand des Hotels und der Ziegelmauer auf der anderen Seite der Gasse, schräg und verkantet, sodass es zwischen den beiden Gebäuden in der Luft zu schweben schien. Der obere Teil sah aus, als hätte ein ungeheuerliches Wesen ein Stück davon abgebissen und die Eisenstreben genüsslich zwischen mächtigen Zähnen zermalmt.
    Maus ließ die Tür offen stehen und rannte zurück zum Hauptkorridor. Zwei Ecken weiter sah sie schon von weitem die Schneemassen, die sich aus dem Torbogen zum Haupttreppenhaus in den Flur ergossen hatten. Die Lawine, die sie vorhin die Stufen hinab verfolgt hatte, hatte den Zugang zur Treppe und damit zum fünften Stock vollständig versiegelt.
    Maus kletterte über den schrägen Schneehang hinweg und wunderte sich, wie fest seine gefrorene Oberfläche war: hart und scharfkantig wie Kristall, dabei aber so rutschig wie Seife. Dies war kein gewöhnlicher Schnee, sondern eisiges Zauberwerk der Königin.
    Sie erreichte die andere Seite, schlitterte zu Boden und kam endlich an das Gitter des Lifts. Dahinter lag der Aufzugschacht, durchzogen von Ketten und Seilen, die sich von den riesigen Zahnrädern im Keller bis zum Dampfantrieb oben auf dem Dach spannten. Die Kabine musste sich noch immer eine Etage über ihr befinden, im fünften Stock, dort wo Tamsin sie verlassen hatte.
    Das Liftgitter war verriegelt, aber Maus wusste, aus welchem Winkel man mit dem Ellbogen dagegen schlagen musste, um den eingerasteten Eisenhaken im

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