Frostfluch: Mythos Academy 2 (German Edition)
holte ich tief Luft, schob die Ärmel nach oben und legte die bloßen Hände um das Buch. So blieb ich sitzen und wartete darauf, dass die Bilder und Gefühle meinen Geist überschwemmten.
Eine halbe Sekunde lang geschah gar nichts, aber dann schaltete sich meine Psychometrie ein, und Bilder von Oliver füllten meinen Geist. Überwiegend waren es dieselben Bilder, die ich am Mittwochmorgen beim Waffentraining gesehen hatte. Oliver, der in seinem Zimmer im Wohnheim saß und die Seiten vollschrieb, und der Spartaner, wie er sich über das Notizbuch beugte und Bilder kritzelte, während seine Professoren Vorträge hielten. Ich empfing auch dieselben Gefühle wie beim letzten Mal: Langeweile und Frustration bei den Hausaufgaben, gemischt mit kurzen Aufwallungen von Wut und Angst.
Dann bildete sich tief in meinem Magen das kribbelnde Gefühl. Ich konzentrierte mich auf diese spezielle Schwingung und bemühte mich, alle Bilder aufzurufen, die damit zusammenhingen. Alles, was Oliver mit dieser bestimmten Empfindung assoziierte. In meinem Kopf bildete sich das vage Bild einer Person mit schwarzem Haar und schwarzen Augen. Ich verdrängte alles andere, damit ich dieses Bild schärfen und genau sehen konnte, auf wen Oliver so sehr stand …
Und Kenzies Gesicht tauchte in meinem Kopf auf.
Ich keuchte überrascht auf, aber das war noch nicht alles. Es war, als wäre ein Damm gebrochen. Die Gefühle überschwemmten mich einfach. Ich sah und fühlte alles, was Oliver in Bezug auf seinen Freund empfand. Erinnerte mich an die gemeinsamen guten Zeiten, während sie aufgewachsen waren. Fühlte all die Bewunderung und Loyalität zwischen ihnen. All die kleinen Ereignisse, die dafür gesorgt hatten, dass Olivers Gefühle zu etwas angewachsen waren, das über Freundschaft hinausging. Die schwindlige Freude, die er empfand, wenn er mit Kenzie zusammen war. Die Wut und die seelenzerfressende Verzweiflung, weil Kenzie ihn nie auf dieselbe Art mögen würde. Und dann, ganz am Ende, all die Frustration und die Angst, dass ich Kenzie erzählen würde, wie Oliver wirklich empfand, um so ihre Freundschaft zu ruinieren – und alles Gute, das sie hatten.
Immer wieder hob sich mein Herz, um dann nach unten zu sacken, während ich die Achterbahn von Olivers Gefühlen durchlebte. Das ging so weiter, bis ich glaubte, es müsste mir aus der Brust springen. Schließlich ließen die Gefühle nach, um dann ganz zu verschwinden. Ich wusste, dass ich alles gesehen hatte, was das Notizbuch mir zeigen konnte.
Ich riss die Augen wieder auf. Das Buch glitt aus meinen Fingern, und ich ließ mich aufs Bett sinken, weil mich all diese Gefühle ein wenig überwältigt hatten. Ich atmete ein paarmal tief durch und wartete darauf, dass diese intensiven Empfindungen in mir verblassten.
Also war Oliver verliebt – oder zumindest ernsthaft verschossen –, genau wie ich vermutet hatte, doch statt in ein Mädchen verknallt zu sein, galten Olivers Gefühle Kenzie, seinem besten Freund und Mitspartaner. Das war alles? Das war Olivers großes Geheimnis?
Ja, es war ein ziemlich heftiges Geheimnis, aber trotzdem konnte ich nicht anders, als enttäuscht zu sein. Mir war völlig egal, auf wen Oliver stand. Die Leute mochten, wen sie eben mochten, und ich war einfach der Meinung, dass man keine große Sache daraus machen sollte. Es spielte doch nur eine Rolle, ob man selbst mit sich zufrieden war.
Aber dass ich nun Olivers Geheimnis kannte, beantwortete keine meiner anderen Fragen. Ich hatte das Gefühl, dass immer noch etwas fehlte, also griff ich erneut nach dem Notizbuch. Dieses Mal blätterte ich es Seite für Seite durch und bemühte mich, Olivers krakelige Handschrift zu entziffern. Aber dort stand nichts, das ich nicht bereits gesehen oder gefühlt hatte. Jede Menge Niederschriften aus dem Unterricht, jede Menge Kritzeleien, jede Menge wirklich coole Porträts von Kenzie. Egal, was Oliver sonst war, er war auf jeden Fall ein Künstler mit ziemlich viel Talent.
Doch was ich nicht fand, waren Hinweise darauf, ob Oliver der Schnitter war, der es auf mich abgesehen hatte. Ich hatte alles von dem Buch erfahren, was ich konnte, also stopfte ich es wieder zwischen die Laken, wo ich es gefunden hatte. Dann stellte ich mich in die Mitte des Raumes und sah mich um, weil ich überlegte, ob es noch etwas gab, das mir verraten konnte, ob mein Verdacht in Bezug auf Oliver richtig war.
Mein suchender Blick blieb an einem Schlüsselbund auf Olivers Nachttisch
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