Frostglut
heraus. Er streckte sie mir entgegen, doch ich drückte mich nur fester gegen die Wand des Kamins, während ich mir wünschte, ich könnte mit dem Stein verschmelzen, um auf der anderen Seite wieder herauszukommen. Ich musste Gegenstände nicht immer berühren, um Schwingungen von ihnen aufzufangen, besonders wenn starke Gefühle und Erinnerungen mit dem betreffenden Gegenstand verbunden waren. Inaris Handschellen strahlten Angst, Wut und Verzweiflung aus – und die Gefühle waren ineinander verschlungen, bis sie sich anfühlten wie ein unsichtbarer Strang Stacheldraht.
Ich wollte diese Handschellen nicht einmal in meiner Nähe haben, und noch weniger wollte ich, dass sie meine Haut berührten und mich zwangen, alles zu sehen, zu fühlen und zu erleben, was die vor mir mit diesen Handschellen gefesselten Leute durchlebt hatten. Nicht wenn ich schon ohne Berührung all diese scheußlichen Emotionen von dem Metall auffing. Zitternd senkte ich den Blick. Allein die Metallfesseln anzusehen verursachte mir Übelkeit.
»Nein«, sagte Logan, der meine Reaktion bemerkt hatte. Er wusste genau, was passieren würde, wenn sie mir diese Handschellen anlegten. »Keine Handschellen. Gwen hat sie nicht verdient. Sie hat nichts von dem hier verdient. Ihr macht einen riesigen Fehler.«
»Ich kann keinen Fehler erkennen«, antwortete Linus mit harter Stimme. »Außer dass du anscheinend dieselbe alberne Zuneigung zu Frost-Frauen empfindest wie dein Onkel.«
Wut färbte Logans Wangen rot. Er hatte mir einmal erzählt, dass sein Vater nicht gut mit seinem Onkel Nickamedes, dem Leiter der Bibliothek der Altertümer, auskam. Aber jetzt schien es, als bestände zwischen ihnen mehr böses Blut, als Logan mir verraten hatte – und es hatte offensichtlich irgendwas mit meiner Mom, Grace Frost, zu tun.
»Keine Handschellen, Dad«, wiederholte Logan.
Logan versteifte sich, ballte die Hände zu Fäusten und beäugte Inari, als dächte er darüber nach, den Mann anzugreifen, um ihm die Handschellen zu entreißen.
»Es ist okay, Logan«, sagte ich, weil ich nicht wollte, dass er auch noch in Schwierigkeiten geriet.
»Nein, es ist nicht okay. Nichts an dieser ganzen Sache ist okay.«
Linus öffnete den Mund, wahrscheinlich, um Inari zu befehlen, mir die Handschellen trotzdem anzulegen, aber dann musterte er den wütenden Logan und schien es sich anders zu überlegen. Er betrachtete erst seinen Sohn, dann mich.
»Schön«, blaffte er. »Keine Handschellen. Ich nehme an, du bist nicht dumm genug, einen Fluchtversuch zu wagen.«
Ich schüttelte den Kopf. Nein, so dumm war ich nicht. Ich wusste, dass ich diesen Männern auf keinen Fall entkommen konnte. Vielleicht hätte ich eine Chance gehabt, wenn ich die Stärke einer Walküre oder die Schnelligkeit einer Amazone besessen hätte, aber meine psychometrische Magie konnte mir in diesem Fall nicht helfen.
»Gut. Dann lass uns gehen«, sagte Linus.
Mit diesen Worten zwangen mich die drei Männer vom Protektorat, mich vom Kamin zu lösen und das Café zu verlassen.
Linus und Logan gingen vor mir, während ich auf den anderen drei Seiten von Sergei, Inari und Alexei bewacht wurde. Zusammen verließen wir das Kaldis .
Sobald sich die Tür hinter Inari geschlossen hatte, hörte ich, wie Stühle zurückgeschoben wurden und Füße über den Boden trappelten. Ich sah über die Schulter zurück. Alle im Café drückten ihre Gesichter und Handys gegen das Fenster, um ja nicht zu verpassen, was als Nächstes geschah. Ich hätte ihnen verraten können, dass es auf keinen Fall etwas Gutes war.
Wieder zitterte ich, aber diesmal war es nicht nur Angst. Es war Mitte Januar und die Luft bitterkalt. Der eisige Wind brachte harte Schneeflocken mit sich, die er gegen unsere Körper schleuderte, und der Himmel über uns war dunkel und grau, als wäre jegliches Blau von der Kälte aufgefressen worden. Dabei war es noch nicht einmal vier Uhr.
»Ah«, sagte Sergei angetan und hielt das Gesicht in den heulenden Wind. »Das erinnert mich an Russland im Winter.«
Wir gingen den Gehweg entlang. Kaldis Kaffee lag an der Hauptstraße, die durch Cypress Mountain führte. Immer mehr Leute streckten die Köpfe auf die Straße, um uns anzustarren, als wir vorbeikamen. All die hochklassigen Geschäfte in dem schicken Vorort kümmerten sich hauptsächlich um die Bedürfnisse der Mythos Academy, also wussten die Besitzer und Angestellten der Läden einiges über die mythologische Welt. Die meisten von ihnen waren selbst
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