Frostherz
Löchergraben dadurch erschwert wurde. Schmunzeln musste sie bei der Vorstellung, wie sie das gerade herausgezogene Unkraut gegen noch Fieseres ersetzten. Verstohlen sah sie zu Cornelius. Wie ruhig er arbeitete. Als sei dies hier die selbstverständlichste Sache der Welt. Sie war froh, dass er ihre Furcht nicht bemerkte, weil er so auf seine Löcher konzentriert war. Die waren natürlich schon viel tiefer als ihre. Er hatte ja auch mehr Kraft. Hatte sie auf die Lenkstange seines Fahrrads genommen und hinten auf dem Gepäckträger die volle Kiste transportiert. Ihr wurde kalt, als sie an den Moment dachte, als sie ganz langsam und vorsichtig den Rollladen hochgezogen hatte und zum Fenster hinausgeklettert war. Cornelius hatte sie stolz angesehen: »Keine Schlaftablette heute?«, hatte das geheißen.
Er hatte tatsächlich recht gehabt mit seiner Vermutung. Heute war sie nicht sofort eingeschlafen! Hatte nicht mal den Wecker gebraucht. Anne spürte jedes Mal Zorn aufwallen, wenn sie an ihren Vater dachte. Es geschah ihm ganz recht, dass sie jetzt hier war. Die Wut lenkte sie auf die Schaufel in ihrer Hand um, heftig stieß sie zu, schleuderte die Erde in die Luft, schnaufte laut.
»Sch«, ermahnte Cornelius sie, ohne zu ihr hinüberzusehen. Verbissen arbeitete Anne weiter. Letztlich war sie nur wegen ihres Vaters hier. Weil sie ihm klarmachen wollte, dass sie kein kleines Mädchen mehr war, das sich ängstlich hinter seinem Rücken versteckte, ein paar schwitzige Finger in seine Hand schiebend. Sie war jetzt groß. Fast erwachsen. Und sie war mutig. Wollte mutig sein. Auch, wenn er das hier besser nie erfahren sollte.
Cornelius’ Hand lag plötzlich schwer auf ihrem Unterarm. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er angestrengt in die Finsternis. Hoffentlich spürte er die Gänsehaut auf ihrem Arm nicht. Dann ließ er sie los, aus der Hocke erhob er sich, machte ihr ein Zeichen, ihm zu folgen. Himmel, sie merkte jetzt erst, dass ihr Fuß eingeschlafen war. Mühsam folgte sie ihm, den Herzschlag im Mund schmeckend.
Sie pressten sich an die Wand zwischen dem alten Hauptgebäude und dem neu erbauten Seitenflügel, in die kleine Nische, die zum Atrium führte. Ihre Hand umklammerte den Schaufelstiel beinah grotesk fest, so, dass es schmerzte. Als würde sie sich selbst bestrafen. Cornelius’ Atem neben ihr ging ruhig, ganz ruhig.
Dann entdeckte sie die dunkle Gestalt in dem türkisblauen Trainingsanzug, keine 20 Meter von ihnen entfernt. Anne drängte sich dichter an Cornelius. Nahm den Geruch von Erde wahr, der von seinen Händen ausging, von ihren Händen. Die Gestalt näherte sich, spähte umher. Wenn ihre Löcher entdeckt würden, wäre ihr Plan gescheitert. Anne spürte plötzlich den Wunsch, nicht aufzufliegen, so übermächtig in sich, als hinge ihr weiteres Schicksal davon ab. Dabei ging es doch eigentlich um nichts. Nur um einen dummen Streich.
Als sie den Hund entdeckte, schluckte sie. Cornelius nahm ihre Hand. Als ahnte er, dass sie sonst loslaufen würde. Fort von hier, einfach fort. Was tat sie hier? Seine Hand war voller Erdkrumen, trotzdem war sie warm und weich. Sie traute sich nicht, ihre Finger gegen seinen Handrücken zu pressen. Wie Schmetterlinge ruhten ihre Fingerkuppen auf seiner Haut. Bereit, jederzeit davonzufliegen.
Der Hund schnupperte in ihre Richtung. Anne schloss die Augen. Sie hatte diesen großen struppigen Schäferhund schon immer gehasst. Sie wollte nicht sehen, wie er auf sie zustürzen würde, wie sein Maul sich öffnen, die Lefzen von Sabber überzogen. Wie sich spitze Zähne in ihr Fleisch bohren würden. Wie… Ein Pfiff ließ sie die Augen öffnen.
»Komm, Berti«, hörte sie den Mann rufen. »Da is’ keiner. Falscher Alarm.« Seine Zunge klang schwer vom Bier. Der Hund tat noch ein paar Schritte in ihre Richtung. Ihre Blicke trafen sich. Cornelius drückte ihre Hand ganz fest. Ihr Herz platzte gleich aus ihrem Brustkorb heraus.
»Guter Hund, braver Berti«, murmelte Cornelius in einem Ton, als müsste er ein schreiendes Baby zum Einschlafen bringen.
»Berti«, der Ton nun schneidender. Der Hund knurrte ganz kurz, dann schlug er einen Haken, verschwand im Dunkel der Nacht, die mondlos grau so tat, als wäre nie etwas geschehen. Langsam atmete Anne aus. Cornelius ließ ihre Hand los.
»Weiter?«, flüsterte er, fast tonlos. Sie nickte. Ja, sie war mutig. Sie würden das hier jetzt zu Ende bringen.
Als er den Vorgarten des Hauses durchquerte, war die Nacht schwarz wie
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