Frostherz
keinen Platz in ihrem Kopf, und als sie die beiden Teller fürs Frühstück auf den Tisch mit der blau-rot karierten Wachstuchtischdecke stellte, pfiff sie das Lied, welches sie in der Probe ständig sangen. Das Kribbeln fühlte sich richtig gut an.
Johann schien nichts bemerkt zu haben. Er schwieg wie immer, setzte sich mit wie üblich grauem Gesicht und tiefen Schatten, die die hellblauen Augen noch wässriger wirken ließen, und verschwand hinter der Zeitung. Sein grau-blondes Haar stand in alle Richtungen ab, einen repräsentativen Eindruck, wie es für seinen Job nötig war, machte er noch lange nicht.
Wie immer war sie ein paar Minuten zu früh an der Bushaltestelle, und während sie auf den von feinem Morgenregen gesprenkelten Asphalt starrte, zitternd in ihrer frühlinghaft dünnen Jacke mit der ebenso dünnen Blümchenbluse darunter, kam ihr ein Gedanke. Wie wäre es, den Bus durchfahren zu lassen und zur Schule zu trampen? Einfach so. Zeit genug wäre. Nein, das war absurd.
Das Surren der Räder, das satte Bremsgeräusch, das Aufklappen der Türen riss sie hoch. Schon saß sie im Bus, an ihrem Stammplatz in der vorletzten Reihe, am Fenster. Sie fühlte so etwas wie Energie in sich. Eine Energie, die nicht wusste, wo sie herkam, wo sie hinwollte. Die fließen wollte und zu verebben drohte. Sie knabberte an ihren Fingernägeln, wippte mit dem rechten Fuß. Die jüngeren Schüler vor ihr warfen Äpfel quer durch den Bus, sie schrien sich an, obszön und banal zugleich. »Ey, Opfer.« Sie blickte wieder nach draußen. Ein Sonnenstrahl brach durch ein Wolkenloch, beschien den blühenden Kirschbaum auf dem Platz vor der Schule. Sie ließ erst alle anderen aussteigen. Hatte keine Lust auf Gedränge. Aber kaum stand sie auf dem Willibalds-Platz, kehrte die Unruhe zurück. Eine freudige und ängstliche Unruhe gleichermaßen. Sie würde jetzt nicht als Erstes ins Klassenzimmer gehen und ihr Biologieheft auspacken. Ihre Schritte lenkte sie in Richtung des sandsteinfarbenen Torbogens, hinter dem der Schulgarten lag. Dorthin, wo Cornelius in seinem dunkelblauen Jackett mit den Goldknöpfen und dem weißen T-Shirt lehnte. Er fuhr sich durch sein welliges dunkelbraunes Haar, das er mit der hochgeschobenen Sonnenbrille davon abhielt, in sein verschmitzt grinsendes Gesicht zu fallen. Anne verstand genau, warum Cornelius in den meisten Kursen, die sie gemeinsam besuchten, so unbeliebt war. Wie er so dastand, gab er das perfekte »Role model« für einen verzogenen, arroganten Schnösel ab. Er wirkte, als wählte er alles sehr bewusst aus: Die ein wenig ausgeblichene Jeans mit den aufgesteppten Nähten quer über dem Oberschenkel, die dunkelbraunen Sandalen mit geflochtenen Riemen, barfuß natürlich und viel zu kalt für diesen nassen Maitag. Seine ganze Erscheinung schrie die Außenstehenden an: Ich gehöre gar nicht hierher. Ich bin falsch hier. Und ihr seid schuld. Sie war froh, dass sie ihn ganz anders kannte. Als er sie nun entdeckte, wurde das Lächeln in seinem Gesicht ehrlicher. Das Zynische darin verschwand. Anne ging langsam auf ihn zu. In ihrer Blümchenbluse kam sie sich lächerlich vor. Noch immer fand sie es unvorstellbar, dass sich dieser coole Typ mit ihr abgab. Dass sie nächtliche Abenteuer mit ihm erlebte. Er müsste doch längst gemerkt haben, wie langweilig und verschroben sie war. Wie ihre Ängste sie steuerten und ausknockten. Dass sie eine Streberin war, wie es im Buche stand. Immer in Sorge, nicht gut genug zu sein.
Aber dann dachte sie wieder an den gestrigen Abend. Das war nicht spießig gewesen, nicht langweilig. Und sie war dabei, ja sogar mittendrin, gewesen. Sie war mitverantwortlich dafür, dass nun immer mehr Schüler den Weg in den Garten nahmen und nicht ins Schulhaus. Es schien sich herumgesprochen zu haben, dass dort etwas nicht stimmte. Sogar einige Lehrer sah sie dorthin eilen. Von Derking entdeckte sie, dabei interessierte den Musiklehrer der Garten des angeblich verehrten Kollegen Brunner doch sonst gar nicht. Auch Rosen war auf dem Weg. Cornelius zog sich sofort ein wenig hinter die Mauer zurück.
Kaum stand Anne endlich neben Cornelius, rauschte Brunner an ihnen vorbei. Sein braun-beiges Tweedsakko rauschte geradezu mit, die hellbraunen Cordhosen wehten um seine garantiert altherrenhaft dünnen, behaarten Beine. Sie sah ihm hinterher und wusste genau, was er gleich entdecken würde. In seinem Garten.
Und schon hörte sie ihn.
»Nein«, brüllte Brunner nun in die noch kühle
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