Frostherz
Anne drehte sich stöhnend zur Wand. Dann müsste sie noch einmal abends abhauen. Sie war so froh gewesen, als sie nach der gestrigen Aktion zurückgekehrt war und festgestellt hatte, dass der Rollladenspalt noch immer offen war und sie sich problemlos zurück in ihr Zimmer hatte stehlen können. Eigentlich geschah es Johann ganz recht, wenn sie so etwas tat. Sie hätte schon vor Jahren damit anfangen sollen. Aber besser spät als nie! Morgen, morgen Abend würde sie noch einmal abhauen. Und sie wusste auch wohin. Und außerdem würde sie ein Immobilienbüro anrufen. Sie musste endlich lernen, selbst Tatsachen zu schaffen. Und sich nicht immer von der Hand ihres Vaters führen lassen, die sich mittlerweile wie eine Handschelle anfühlte. In ihrem Kopf reifte ein Plan, auf den Cornelius sicher stolz wäre!
Heute Abend ist kein guter Zeitpunkt war der meistgedachte Satz in Annes Hirn in den nächsten Tagen. »Heute« ging es nicht, weil sie am nächsten Tag die Biologie-Arbeit nachholen würden, und da wollte sie ausgeschlafen sein. »Heute« ging es nicht, weil Johann sich Arbeit mit nach Hause gebracht hatte und garantiert zu spät ins Bett gehen würde. Am Wochenende ging es sowieso gar nicht. Anne war froh, dass sie Cornelius nicht in ihren Plan eingeweiht hatte. Sie bekam ihn sowieso kaum zu Gesicht, da seine Mutter mit einem neuen Rheumaschub ins Krankenhaus gebracht worden war und von unerträglichen Schmerzen gequält wurde. Jeden Nachmittag ging er zu ihr, um sie ein wenig abzulenken. Ob Rosen wohl auch dorthin ging?, überlegte Anne. Ob sich seine Eltern gut verstanden, darüber hatte Cornelius noch nie mit ihr geredet. Außerdem hatte sie ihn in den Pausen immer öfter mit dieser Ami zusammenstehen sehen und sie brachte es einfach nicht über sich, sich einfach dazuzugesellen. Sie wusste nicht, warum, aber irgendwie hatte sie Angst vor dieser Frau.
Heute endlich war Cornelius zu Anne gekommen und hatte ganz direkt gefragt: »Und? Wann machen wir unseren nächsten Ausflug?«
Anne hatte den Kopf schiefgelegt und ihn betrachtet. »Bald, versprochen«, hatte sie nur geantwortet. Aber seine Frage war so eine Art Katalysator gewesen für die Aufgabe, die sie sich selbst gestellt hatte. Heute Abend war endlich der richtige Tag.
Sie drapierte einige dicke Wollpullover und eine alte Puppe so in ihr Bett, dass der Haufen bei einem kurzen Blick ins dunkle Zimmer für einen Menschen durchgehen konnte. Sie wartete wieder bis halb zwölf, und als sie ihre Zimmertür öffnete, hörte sie Johann sogar quer über den Flur schnarchen. Leise nahm sie den Schlüsselbund für das Haus ihrer Großmutter vom Schlüsselbrett im Flur. Nachts würde er nicht merken, wenn er fehlte.
Während sie weiter auf das Schnarchen lauschte, schloss sie ganz langsam die Haustür auf. Eine kühle Brise wehte zu ihr herein, sie sah schwarze Wolkenfetzen den nächtlichen Himmel noch stärker verdüstern. Sie ließ Johanns Schlüssel von innen halb stecken, sodass sie später von außen trotzdem würde aufschließen können. Noch einmal testete sie, ob das auch funktionierte. Kein Problem. Eigentlich hatte sie vorgehabt, sich Johanns Fahrrad aus der Garage zu holen, die so voller Gerümpel war, dass er sein Auto seit Jahren auf der Straße parkte. Sie selbst besaß kein Rad, viel zu gefährlich. Doch kaum hatte sie das Tor ein paar Zentimeter geöffnet, durchfuhr ein Quietschen die nächtliche Stille, als ob ein Riese mit seiner Eisensäge eine Metallplatte zerkratzte. Sie hielt in der Bewegung inne und sah sich um. Johanns Schlafzimmer war keine fünf Meter von der Garage entfernt. Alles blieb ruhig. Langsam atmete sie aus. Sie traute sich nicht, das Tor noch einmal zu berühren. Dann würde sie eben zu Fuß gehen. So weit war es ja gar nicht. Mit zwischen die Schultern gezogenem Kopf, die Kapuze einer dunkelblauen Sweatshirt-Jacke über den Haaren, schlich sie die Straße entlang. Sie fühlte sich wie Audrey Horne, die sogar in einem Bordell anheuerte, um den Mord an ihrer Freundin Laura Palmer aufklären zu helfen. Wie gut, dass es bei Anne nicht um Mord ging, nicht einmal um ein Verbrechen. Nur darum, ihr Leben endlich selbst in die Hand zu nehmen.
Irgendwo schlug ein Hund an. Anne ging immer schneller. Erste Tropfen trafen ihr Gesicht. Sie fröstelte. Kam dort unten, wo ihre Straße auf die Hauptstraße abbog, Karl Miller, ihr Nachbar von gegenüber? Sie war schon nahe dran, die Straßenseite zu wechseln, als ihr klar wurde, dass sie den
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