Frostherz
Frühlingsluft und stand fassungslos an seinen Beeten. Er ließ die Schultern hängen, als stünde er am offenen Grab. Anne schaute schnell zu Cornelius auf, der gleich hinter ihr stand. Am Zaun hatten sie sich postiert, dort konnte man alles gut übersehen. Cornelius grinste, aber so, dass niemand auf die Idee gekommen wäre, er hätte mit der Untat etwas zu tun. Jetzt kam sogar Uwe Meyer-Schönfeld dazu, der Rektor. Er legte Brunner eine Hand auf die Schulter und das Bild der Begräbniszeremonie war perfekt. Theatralisch sank Brunner zu Boden und griff nach dem Übel in seinem Beet. Er rupfte eine der etwa 30 armen, unschuldigen Pflanzen heraus, reckte sie in die Höhe und schrie: »Wer war das? Wer hat mir dieses Unkraut, dieses Gift ins Beet gebracht?«
Gegen den Himmel zeichneten sich die sieben schmalen, zum Stängel hin immer breiter und länger werdenden Blätter, die wie Finger einer Hand wirkten, scharf und klar ab. Die älteren Schüler kicherten alle, manche feixten laut.
»Ich nehm’ sie!«, schrie einer.
»Das war bestimmt Ami«, ein anderer.
»Schade um den schönen Stoff«, rief ein dritter. Schnell zog er sich hinter seine Freunde zurück.
»Das ist kein Spaß«, tobte Brunner weiter. »Was Sie hier verharmlosen, ist Cannabis – ein Rauschmittel –, genauso krebserregend wie Zigaretten, das aber zudem Schizophrenie und Schlimmeres auslösen kann!«
»Unsinn«, höhnte ein Zwölftklässler. »Das ist gar nicht bewiesen.«
Brunner rannte auf ihn zu, die schon etwas schlappe Pflanze in der Faust immer stärker zermalmend. »So ein Dreck hat in meinem Garten nichts zu suchen«, schrie er und die Haut spannte sich noch straffer um sein markantes Gesicht. »Außerdem ist es strafbar, so was anzubauen!« Dann rannte er zurück zum Beet und begann, die anderen Cannabis-Pflanzen herauszurupfen, fluchend und stöhnend.
»Ruhig, Herr Kollege«, versuchte Meyer-Schönfeld ihn aufzuhalten. »Das kann doch der Hausmeister gleich machen.« Dann wandte er sich an den immer größer werdenden Kreis der Schüler.
»Und ihr geht jetzt alle in eure Klassenzimmer, hier gibt es gar nichts zu sehen. Der Unterricht hätte schon längst beginnen müssen.«
Nach und nach zogen die Schüler in kleineren und größeren Gruppen ab.
Fein, dachte Anne und ging dicht neben Cornelius her. Sie musste sich ein wenig anstrengen, aber dann gelang ihr tatsächlich so etwas wie Genugtuung gegenüber Brunner. Denn dass er diesen kleinen, albernen Streich verdient hatte, stand völlig außer Frage. Noch größer allerdings war ihr Stolz, dass sie diese erste »Anne-Jänisch-Befreiungsaktion« tatsächlich durchgezogen hatte.
Auch an diesem Abend landete die angebliche Vitamintablette erst in ihrer Wangentasche und dann in der Toilette. Und tatsächlich: Sie schlief längst nicht so schnell ein wie sonst. Es war richtig anstrengend zur Ruhe zu kommen. Die amüsierten Gesichter ihrer Mitschüler angesichts des Cannabis in den Beeten tauchten vor ihr auf, ebenso wie Brunners zornesrotes Gesicht. Die Biologiearbeit war erst einmal verschoben worden. Wie gerne hätte Anne zu jedem gesagt: Das war ich! Und wie sehr schämte sie sich für diesen Wunsch. So was Lächerliches!
Am Abend hatte sie gehört, wie ihr Vater mit Rosen telefoniert hatte. Und wie erwartet, hatte Johann ihren Lehrer vertröstet. Es sei noch unklar, wie es mit dem Haus weitergehen würde. Er sei einfach noch nicht so weit, es zu verkaufen. Anne verstand Johann nicht. Sie wusste nicht wirklich, wie schlecht es um seine Steuerkanzlei tatsächlich stand, aber sie ahnte, dass es nicht gut lief. Immer wieder fischte sie Mahnungen für unbezahlte Rechnungen aus dem Briefkasten und weder die Klassenfahrt wollte er bezahlen noch plante er irgendeine auch noch so kleine Reise für die Sommerferien mit ihr. Sie waren in den letzten Jahren nie weit fort gefahren, an den Bodensee gelegentlich oder nach Tirol. Johann wollte nicht in ein Land fahren, in dem er die Bevölkerung nicht verstehen konnte. Wie sollte er Hilfe holen, wenn etwas passieren sollte? Außerdem fuhr er am liebsten mit dem Zug. Selbst Italien war ihm schon viel zu weit fort. Bangkok – Anne ließ das Wort auf ihrer Zunge zerschmelzen. Wie mochte es da wohl aussehen? Wenn sie doch nur einmal dorthin reisen könnte. Es musste wirklich eine andere Welt sein, voller fröhlicher Menschen, üppiger Pflanzenpracht und wunderschöner Bauwerke. Vielleicht könnte ihr Cornelius Bilder von dort zeigen? Aber dann…
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