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Frostherz

Frostherz

Titel: Frostherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Broemme
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groß gewachsenen Mann noch nie gesehen hatte. Nein, ihr Nachbar war das nicht. Aber fixierte sie der Fremde nun? Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie leer die Straße tatsächlich war. Überall stockdunkel hinter den Fenstern. Sie atmete schneller, ging so rasch wie möglich. Kam er auf sie zu? Sollte sie einfach loslaufen? Was, wenn er sie ansprach? Angriff? Seine Hand bewegte sich auf die Innentasche seiner Jacke zu. Anne duckte sich regelrecht. Sie würde jetzt die Straße überqueren, ganz schnell. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass er so etwas wie ein Portemonnaie aus der Jacke zog. Sie atmete auf, als er den Zigarettenautomaten ansteuerte, der am Zaun des untersten Hauses der Straße angebracht war. Ein kleiner Schlenker und sie war schon beinah wieder auf der richtigen Straßenseite. Bremsenquietschen riss sie zurück. Ein Autofahrer, der in ihre Straße abbiegen wollte, gestikulierte wild mit den Händen, schrie irgendetwas, das sie nicht verstand. Ihr Herz raste, als sie endlich auf der Hauptstraße stand, die sich langsam den Berg hinab in Richtung Stadt schlängelte. Mein Gott, schimpfte sie sich. Ich benehme mich echt wie ein kleines Mädchen! Nicht mal die Straße kann ich richtig überqueren.
    Sie strengte sich an, die bösartigen Litaneien aus ihrem Kopf zu vertreiben. Du bist bescheuert. Du spinnst ja. Du bringst dich in Gefahr. Du hast es nicht anders verdient, wenn was passiert und ähnliche Sätze ratterte ein kleines, gemeines Monster in ihr. Selbst der nun dichter fallende Regen konnte das böse Flüstern nicht übertönen.
    Erst als sie das Haus ihrer Großmutter sah, wurde sie ruhiger. Endlich ein Versteck. Doch von außen sah es mehr wie eine Trutzburg aus, die erst eingenommen werden musste. Sich umblickend, näherte sie sich der Tür. Auch hier lagen die Nachbarhäuser im Dunkeln. Brave Bürger, allüberall.
    Sie schlich durch den dunklen Flur und traute sich nur in der Küche, Licht zu machen. Deren erhelltes Fenster würde man auf der Straßenseite nicht sehen. Wie still es im Haus war. Einen Moment setzte sie sich auf den alten Holzstuhl an dem kleinen, quadratischen Tisch, an dem sie so oft ihr Mittagessen gelöffelt hatte, während ihre Großmutter mit Hausarbeiten beschäftigt gewesen war. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie – außer an Feiertagen – gemeinsam mit der Großmutter gegessen hätte. Als habe sich diese von Arbeit ernährt.
    Immerhin beruhigte sich ihr Herzschlag. An der Spüle ließ sie ein paar Minuten das Wasser laufen, dann nahm sie ein Glas, füllte es und trank es in einem Zug aus. Ihr Blick fiel auf das ungespülte, benutzte Glas, das sie das letzte Mal hatte stehen lassen. Unruhe überfiel sie. Sie würde jetzt nach dem Schlüsselbund der Großmutter suchen und dann ganz schnell gehen. Diese Schlüssel, so ihr Plan, würde sie Cornelius geben, der dann einen Makler durchs Haus führen könnte. Und Johann vor vollendete Tatsachen stellte. Cornelius würde sich als Jänisch junior vorstellen, dessen Vater kurzfristig verhindert sei. Und wenn der Makler anbiss, konnte sie Johann sagen, ein Immobilienbüro wäre sehr interessiert daran, das Haus zu verkaufen. Dann musste er doch etwas tun.
    Doch erst einmal musste sie den Schlüssel finden. In der Küche lag er nirgends, aber immerhin fand sie im Küchenschrank eine funktionsfähige Taschenlampe. Mit dieser leuchtete sie die Flurgarderobe ab – Fehlanzeige. Auch im Wohnzimmer war nichts zu entdecken. Doch plötzlich wusste sie, wo sie suchen musste. Ihr fiel die Goldkette in der Nachttischschublade ein – hatte da nicht ein Schlüsselbund dabeigelegen? Sie spurtete die Treppe hinauf ins Schlafzimmer der Großmutter. Die Regentropfen prasselten gegen die Scheibe, das Licht einer Straßenlaterne fiel ins Zimmer. Sie öffnete die Schublade des Schränkchens, auf dem noch immer die Chronik des Knabenchors lag. Sollte sie das Buch mitnehmen und es daheim in Ruhe anschauen? Sie würde es verstecken und dann… da lag der Schlüsselbund. Aufatmend ergriff sie ihn. Sie erkannte den silbrigen Haustürschlüssel, den Briefkastenschlüssel, den für die Gartenhütte und den langen schwarzen für den Keller. Wofür ein goldener, ähnlich dem Haustürschlüssel, war, wusste sie nicht. Egal. Hauptsache, sie hatte endlich gefunden, was sie suchte.
    Als sie im Wohnzimmer stand, erleuchtete für Sekunden ein Blitz den Raum, der Donner folgte sofort. Jetzt prasselte der Regen an die Scheiben. Unmöglich, nach Hause zu

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