Frostherz
selbstverständlich legte sie ihren langen, schmalen Arm um seine Schulter und versuchte, ihn auf die Wange zu küssen. Er schob sie von sich.
»Wüsste nicht, dass wir verabredet gewesen wären. Was willst du?«
»Hab astreinen Stoff. Das Feinste vom Feinen. Würde ich mit dir teilen.«
»Gegen eine anständige finanzielle Beteiligung, nehme ich an.« Sie schmiegte sich an ihn, legte spielerisch beide Hände auf seine Hüften.
»So eine bin ich nicht. Warum willst du meine wahren Werte einfach nicht erkennen? Ich wollte mir nur einen netten Abend mit dir machen.«
»Danke, nein. Ich mach das nicht mehr.«
»Oh«, ätzte sie. »Wirst du jetzt auch so ein langweiliger Spießer wie deine neue Freundin? Komm schon, die lässt dich garantiert eh nicht ran. Die ist doch total prüde. Wie die schon rumläuft in ihren Blümchen-Blüschen. Das ist total unter deiner Würde.« Sie klimperte regelrecht mit den Wimpern. Völlig affig.
»Ami, bitte, lass mich einfach in Ruhe.«
Sie nahm endlich die Hände weg, ließ die Arme hängen und sah auf den Boden wie ein trotziges Kleinkind.
»Dann sag ich deinem Vater, dass du wieder kiffst!«, blaffte sie. Er spürte, wie sich in seinem Innern eine Art Faust ballte, die nichts lieber tun würde, als auszuholen und zuzuschlagen. Warum verstand diese Tussi es einfach nicht?
»Ey, ich steh einfach nicht auf dich! Du bist mir zu abgefuckt! Willst du es noch genauer wissen? Ich hab kein Helfersyndrom und will dich nicht aus deiner Scheiße retten, verstanden? Und jetzt verschwinde einfach!«
Er drehte sich um, rannte die Stufen zum Haus hinauf.
»Wichser«, hörte er sie schreien, aber da hatte er schon die Tür aufgeschlossen, war hindurchgestürzt und ihr »das wirst du noch bereuen« war nur noch ganz leise in dem hohen, kühlen Flur zu hören.
Mittwoch, 09.06.
Ich habe geträumt von einer Beerdigung, und als ich in den offenen Sarg blicke, liege ich selbst darin. Nein, nicht ich allein. Es ist ein Wesen mit zwei Köpfen, ein Kopf gehört mir, der andere ihm. Selbst im Tod sind wir vereint, selbst im Tod gönnt er mir meine Ruhe nicht. Ich versuche, Tränen aus meinen Augen zu pressen, aber es gelingt mir nicht. Es kommt nur Blut.
Und als ich vom Bett in die Küche der leeren Wohnung wanke, alle Insassen haben schon Freigang, da liegt er auf dem Tisch. Da liegt der Brief, und noch ehe ich ihn berühre, weiß ich, was darin stehen wird. Sie haben mich herausgeschnitten aus diesem Körper, der auf der Stirn das Wort »Schule« prangen hat. Sie wollen mich nicht mehr einlassen in ihre geheiligten Hallen, in denen nur saubere, reine und gütige Subjekte wandeln. So wie er. Ich muss nachlesen, was für ein schlechter Mensch ich bin, dabei weiß ich es doch sowieso. Alkohol- und Drogenkonsum, Fernbleiben vom Unterricht, sogar Gewalt gegen Mitschüler gehen auf mein Konto. Was bin ich reich! So viele Untaten, alle von mir ganz allein begangen. Das soll mir erst mal einer nachmachen, jawohl! Im Stehen zerbrösele ich den Brief in kleine und kleinste Schnipsel, der Fliesenboden ist von Papierschnee bedeckt. Immer höher und höher steigt der Schnee und meine Füße erfrieren, meine Beine. Nur mein Herz erfriert nicht, das ist schon tot.
Erst jetzt sehe ich den Zettel, der neben dem Brief auf dem Tisch liegt. In roter Tinte, direkt abgezapft aus ihrem Herzen, hat die Mutter geschrieben: »Und jetzt?« Und jetzt? Jetzt werde ich gehen und ihn umbringen.
10. Kapitel
Beim Frühstück musste sie sich zusammenreißen. Schon wieder zitterten ihre Hände. Würde das zum Dauerzustand werden? Sie hatte leichte Kopfschmerzen und Johann sah sie mit forschendem Blick an.
»Alles in Ordnung? Du bist so blass«, sagte er. Sie umklammerte ihr Orangensaftglas fester und zwang sich zu einem Lächeln.
»Hab nur nicht so gut geschlafen. Alles okay.«
»Vielleicht müssen wir deine Vitamintabletten mal wieder neu zusammenstellen. Ich komme dich heute von der Schule abholen, ja? Dann kannst du mitkommen und von Derking das Haus von Oma zeigen. Frau Jung wird auch dabei sein. Sie führt heute Vormittag noch einen anderen Interessenten herum.«
Beinahe hätte sie den Orangensaft verschüttet. Mist – das hieße, sie musste heute Vormittag dringend mit dem Kini reden. Ihr Herzschlag verdoppelte sich. In der Tasche ihrer Strickjacke spürte sie den »Stoppt-Strauss«-Button. Nach dem Streit mit dem Musiklehrer hatte sie ihn zu Hause doch abgelegt. Mit Johann wollte sie nicht auch noch
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