Frostherz
geschüttelt. Ein elender Jammerlappen war sie, der nichts auf die Reihe brachte, voller Selbstmitleid, hilflos, widerlich, lebensunfähig – genau das war sie. Wieso sprang Cornelius eigentlich nicht auf, verschwand und ließ sich nie wieder blicken? Sie zuckte zusammen, als etwas ihre Fingerkuppe berührte. Vorsichtig sah sie auf. Er hatte seinen Arm über den Tisch gestreckt, ganz sanft berührten seine Finger ihre. Der Blick seiner dunkelbraunen Augen war sanft und warm. Ein Wohlgefühl durchströmte ihren Körper. Jetzt aufstehen, zu ihm gehen, die Arme um ihn schlingen. Er würde sie nicht wegstoßen, das wusste sie. Warum tat sie es also nicht? Das Wohlgefühl verschwand. Sie fröstelte.
»Anne«, flüsterte er. »Du schaffst das.« Und dann stand er auf und ging einfach davon. Regungslos saß sie da, bis sie die Stimme ihres Gebieters hörte, durchdrungen von ruhiger Strenge, eiskalt und scharf.
»Was machst du da draußen im Regen? Du holst dir eine Erkältung! Komm rein, bitte, sofort.«
Unwillig stand sie auf.
»Entschuldige, dass ich so spät komme, ich hoffe, du hast dich nicht gefürchtet«, sagte Johann, als er Anne in seine Arme schloss. Sie schüttelte den Kopf. Dass sie heute zu früh daheim gewesen war, hatte er offensichtlich nicht gemerkt.
»Ich musste mich noch schnell mit Frau Jung treffen. Wegen des Hauses. Stell dir vor, dein Musiklehrer hat auch Interesse angemeldet. Er kommt die nächsten Tage mal zum Besichtigen vorbei. Wenn du möchtest, kannst du gerne dabei sein. War alles okay mit Hedi?« Anne nickte, spürte, wie sie stocksteif wurde. Wie die Gedanken in ihrem Kopf schon wieder Achterbahn fuhren. Oh Gott, hoffentlich hatte er nichts wegen des Chores zu Johann gesagt. Sie betete, dass er vor der heutigen Chorprobe angerufen hatte.
»Ich bin noch nicht mit den Hausaufgaben fertig«, sagte sie, so ruhig wie möglich. Er nickte und ließ sie gehen.
Okay, überlegte sie, als sie an ihrem Schreibtisch saß. Ich werde mich beim Kini entschuldigen und ihn bitten, dass ich wieder in den Chor kommen darf. Dafür muss ich aber nicht mit Johann reden. Noch nicht. Ich tu’s! Ich versprech’s beim Geist meiner Großmutter! Nach dem Konzert!
Er ließ das Monster laut aufheulen, als ob er damit den Mahlstrom seiner Gedanken übertönen könnte. Warum hatte er ihr nichts von dem Tagebuch gesagt? Er hätte es ihr sagen müssen! Doch wie würde sie darauf reagieren? Und wer interessierte sich so dafür? Jemand, der angestrengt danach suchte und immer näher kam? Im Haus von Annes Großmutter suchte. In ihrem Zimmer, ihrem Rucksack. Cornelius fröstelte trotz der warmen Motorradlederjacke. Welchen Sprengstoff barg der dünne Lederband? Wenn diese kleine, krakelige Schrift doch nur nicht so schwierig zu entziffern wäre… Ob Andreas damals wirklich einen Mord begangen hatte, so wie er es sich in diesem Tagebuch wieder und immer wieder ausgemalt hatte? Und sich anschließend selbst umgebracht? Aber warum hätte er jemanden umbringen sollen? Er hatte noch nicht verstanden, wen Andreas so innig hasste, dass er ihm den Tod wünschte. Und warum. Hedi Aumüller hatte auch nichts erwähnt, was etwas erklären würde. Vielleicht war es wirklich besser, wenn Anne von alldem erst einmal nichts wusste. Sie war so verletzlich. Von ihrer inneren Kraft, die er noch vor ein paar Tagen zu spüren gemeint hatte, war im Moment nicht viel übrig. Schon der Bericht von Hedi schien ihr schwer zu schaffen zu machen. Und jetzt ihr durchsuchter Rucksack. Irritiert bemerkte er die Ruhe in der stillen Straße vor seinem Haus, nachdem er das Monster ausgeschaltet hatte. Selbst das Klappern des Visiers am Helm, den er nun abnahm, kam ihm mit einem Mal viel zu laut vor. Er sollte erst mehr über Andreas’ Schicksal herausfinden und dann mit ihr reden. Das war sicher der bessere Weg. Und bis dahin würde er einfach gut auf sie aufpassen. Wer immer der Jäger des Tagebuchs war – Cornelius würde ihm die Stirn bieten. Agent Cooper hätte sicher genauso gehandelt.
Er ging durch das grüne Tor und erstarrte, kaum hatte er den Kiesweg zum Haus betreten. Diese kantige, magere Gestalt, die da auf den Treppenstufen hockte und mit großer Geste die Asche ihrer Zigarette auf den Rasen schnippte, kannte er nur zu gut.
»Hey, Süßer«, begrüßte sie ihn in ihrer üblichen gedehnten Sprechweise. »Warte schon seit einer halben Stunde auf dich.« Sie warf die Kippe ins Gras, stand auf und kam mit wiegendem Schritt auf ihn zu. Wie
Weitere Kostenlose Bücher