Frostherz
mehr aus dem Kopf.
»Wieso haben wir eigentlich diese Chronik des Knabenchores bekommen? Hat irgendwer aus der Familie da mal mitgesungen?« Sie schaute nicht auf, scharrte vorsichtig mit den Füßen in den bunten Blüten.
»Nein. Aber ich habe eine Zeit lang als Korrepetitorin für den Chor gearbeitet. Weißt du das nicht?«
Cornelius schüttelte den Kopf. Er hatte sich bisher kaum für die Geschichten seiner Eltern interessiert. Natürlich wusste er, dass sein Vater aus eher ärmlichen Verhältnissen kam, die von Strenge und Disziplinierungsmaßnahmen geprägt gewesen waren, während seine Mutter einer sehr angesehenen Familie der Stadt entstammte. Ihr Onkel war Besitzer einer großen Brauerei im Ort gewesen, die schöne, aber für die Mutter unpraktische Villa, die sie jetzt bewohnten, hatte ihm gehört. Da der Onkel keine Kinder gehabt hatte, hatte Cornelius’ Mutter das Haus geerbt.
Cornelius hatte immer schnell weggehört, wenn sein Vater mit Geschichten daherkam, die mit den Worten anfingen: Wir hatten kein… (Spielzeug)… wenig… (zu essen)…nichts… (zum Anziehen)… nie… (Ferien), und so weiter. Cornelius’ Großvater mütterlicherseits war Stadtrat gewesen, jeder kannte ihn. Doch die Mutter hatte es immer vermieden, auf die lange Tradition der Familie hinzuweisen. Sie wollte keineswegs überheblich oder arrogant wirken und trat bescheiden auf. Vielleicht wollte sie auch einfach vermeiden, dass jemand sie fragte, warum sie ihre Pianistenkarriere aufgegeben hatte. Ihre Antwort war stets: »Ich wollte lieber für meinen Sohn da sein«, und ihr Gesichtsausdruck verbot jede weitere Nachfrage.
Als sie den Rückweg antraten, klingelte Cornelius’ Handy. Er verstand kaum etwas von dem, was Anne sagte, die Verbindung war zu schlecht. Aber sie klang sehr unglücklich, so viel war klar. Er versprach, so schnell wie möglich in den Garten zu kommen.
Da war es wieder – dieses merkwürdige Gefühl, das er so schlecht einordnen konnte. Sie brauchte seine Hilfe. Bisher hatten andere hauptsächlich seinetwegen Hilfe gebraucht. Er verursachte Chaos, er beseitigte es nicht. Aber vielleicht war das ja mal eine neue Erfahrung.
Er bemühte sich, nicht allzu ungeduldig zu klingen, als er sich von seiner Mutter verabschiedete. Ihren Blick spürte er dennoch lange im Rücken.
Sie musste das Zittern irgendwie unter Kontrolle bringen. Als sie die Schule verlassen hatte, war sie ganz ruhig gewesen. Zuversichtlich irgendwie. Dieses Gefühl, sich nicht immer gleich wegzuducken, hatte sich so vielversprechend angefühlt. Im Bus dann aber war ihr mulmig geworden. Sie hatte die SMS abgeschickt, und erst als sie das Handy im Rucksack verstaute, war ihr eingefallen, dass es eigentlich viel zu früh dafür war. Er wusste ja, dass sie in der Chorprobe sitzen sollte. Mist. Wenn sie behauptete, der Kini sei krank gewesen, dann war sie wiederum viel zu spät dran. Und wenn… furchtbar, sie hatte das Gefühl, sich immer mehr in einem klebrigen Netz aus Lügen und Unwahrheiten zu verheddern. Wie war sie da nur reingeraten? Die Sache mit Brunner war auch noch immer nicht ausgestanden. Er hatte auf dem AB um Rückruf gebeten. Wenn Johann sich nicht meldete, würde der Lehrer sicher noch mal anrufen. Und dann… Mit fahrigen Fingern suchte sie ihr Handy im Rucksack. Sie musste mit Cornelius sprechen. Dringend.
»Autsch«, rief sie viel zu laut und einige Augenpaare betrachteten sie neugierig. Aus irgendeinem Grund war ihr Zirkelkasten offen und die Spitze des Werkzeugs hatte sich in ihren Zeigefinger gebohrt. Genervt holte sie den Kasten hervor und da fiel ihr erst auf, dass auch sämtliche Stifte auf dem Grund des Rucksacks herumfuhren. Das Schlampermäppchen war fast leer. Sie zog die Bücher und Hefte heraus – eines davon war an der Unterseite umgeknickt, zwischen den Büchern steckten Stifte. Es wirkte, als habe jemand die Tasche in großer Eile durchwühlt und wieder eingepackt. Ein Stöhnen unterdrückend lehnte Anne die Stirn gegen die kalte Busfensterscheibe. Der Domturm erhob sich drohend gegen den grauen Himmel. Waren das noch die Eisheiligen oder schon die Schafskälte?
Sie rief Cornelius an, hörte ihn fast nicht, der Empfang war zu schlecht, aber er versprach, gleich in den Garten zu kommen. Den Hauch einer Erleichterung spürend, legte sie auf. Starrte auf ihren Rucksack. Hatte tatsächlich jemand ihre Tasche durchsucht? Sie kniff die Augen zusammen. Nicht schon wieder. Ein Eindringling bei ihrer Großmutter, in
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